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Frisch Gelesen Folge 145: Hier wird gebaut!


FRISCH GELESEN: Archiv


Hier wird gebaut!

Handlung: Doro Göbel, Peter Knorr
Zeichnungen: Doro Göbel, Peter Knorr

Beltz & Gelberg
Hardcover | 16 Seiten | Farbe | 13,95€
ISBN: 978-3-407-81221-6

Genre: Wimmelbuch

Für alle, die das mögen: Boule & Bill, Hard Boiled, Rotraut Susanne Berner


 

Hier wird gebaut! ist kein Comic im engeren Sinn, sondern ein Wimmelbuch, erfüllt aber alle Kriterien eines Comic: Es hat eine Handlung (genau genommen hat es mehr als EINE Handlung), die in Bildern (ohne Worte) erzählt wird und sich in einem bestimmten Zeitraum (etwa ein Jahr) um eine Reihe von Figuren entfaltet. Es geht um ein Haus, das eine Baugemeinschaft errichten lässt, um einen trotteligen Maler und seine Gehilfin, um eine Gebrauchtwagenhändlerin, die einen Transportdienst eröffnet, um die Umwidmung eines kleinen Platzes, um eine archäologische Sensation, Fußbälle auf dem Dach einer Bank, einen etwas spinnerten Herren mit einem Holzschaf und um vieles mehr.


Jede Menge Handlungsstränge: Auf der Baustelle ist immer Betrieb.

Die einzelnen Handlungsstränge sind recht simpel (auf der Website des Verlags wird das Buch ab drei Jahren empfohlen), können es aber inhaltlich locker mit frankobelgischen Klassikern wie Boule & Bill oder Benni Bärenstark aufnehmen. Tatsächlich hoffe ich immer wieder, dass mal eine der Figuren im Hintergrund auftaucht (am liebsten Natasha auf dem Weg zum Flughafen, aber bisher habe ich nur Corto Maltese gefunden), was natürlich auch an dem an klassischen Funnies orientierten Zeichenstil liegt. Doch es gibt einen großen Unterschied zu den Comics: Alle Geschichten werden gleichzeitig erzählt. Und das Ganze ist natürlich, wie beim Wimmelbuch üblich, mehr als die Summe seiner Teile. Was auch heißt: Jede Leserin und jeder Leser sieht was anderes – und liest damit quasi ein anderes Buch.

Wimmelbücher werden selten als Comics gesehen und sind selbst unter Comicnerds kaum ein Thema. Das liegt einerseits daran, dass die überwältigende Mehrheit ohne jede Handlung auskommt. Meist geht es allein darum, etwas zu suchen, von Kindern oder Tieren über Jungs in gestreiften Pullis oder Drachen bis zu Shaun das Schaf oder Osama bin Laden. Hinzu kommt, dass das handwerkliche Niveau eher niedrig ist: Selbst für die Klassiker von Ali Mitgutsch braucht man viel guten Willen. Doch das änderte sich im vergangenen Jahrzehnt dank einer Künstlerin: Rotraut Susanne Berner. Mit ihrer heute als Klassiker geltende Jahreszeiten-Wimmelbuchreihe, die von 2003 bis 2008 erschien, erfand sie ein neues Genre: das Wimmelbuch mit Handlung.


Wimmelnde Handlung: Rotraut Susanne Berners Bücher.

Berner erzählt in den Winter-, Frühling-, Sommer-, Herbst- und Nacht-Wimmelbüchern mehr als ein Jahr in der kleinen Stadt Wimmelingen. Die Bilder zeigen immer dieselbe Szenerie, verändert nur durch die Jahreszeit – und die Menschen. So wird zum Beispiel über vier Bände eine neue Kita gebaut. Eine Liebesgeschichte entwickelt sich sogar über die gesamte Reihe: Das Paar, das sich im ersten Band noch fremd ist, kommt im zweiten Buch über einen Unfall zusammen und sitzt schließlich im letzten Band gemeinsam im Park – die Frau ist schwanger. Die kleinen Handlungsstränge in jedem Band und der große Bogen über alle Bände hinweg waren für die Form ein gigantischer Schritt. (Also so weit ich weiß: Für Hinweise auf frühere Wimmelbücher mit Handlung bin ich sehr dankbar!)

Von Rotraut Susanne Berner kamen nach der Wimmelingen-Reihe leider keine weiteren Wimmelbücher, dafür haben in diesem Jahrzehnt Doro Göbel und Peter Knorr eine Serie großartiger Bände veröffentlicht. Zwar konnte sich das Künstlerpaar bisher leider nicht zu einer übergreifenden Handlung entschließen (auch wenn einige Figuren mehrfach auftauchen), dafür überwältigt jeder Band mit fantastischem Detailreichtum – und einem kleinen Trick, der dem Genre eine weitere Dimension eröffnet hat: die systematische Veränderung der Perspektive.


Trickreich: Göbels und Knorrs Wimmelbücher, hier Der Ausflug, verändern die Perspektive.

Am besten gelingt das in Unser Zuhause, in dem der Ablauf eines Tages vom Aufstehen früh morgens bis zu einem abendlichen Fest in einer Gruppe von Häusern erzählt wird, die rund um einen begrünten Hof stehen. Im Verlauf des Tages und des Buches zieht der Bildausschnitt um den Hof, sodass jedes Haus einmal von vorne zu sehen ist (dann wird es im Querschnitt gezeigt) und einmal von hinten. In Hier wird gebaut! ist die Idee etwas subtiler: Die Baustelle wird auf jedem Bild aus einem leicht veränderten Winkel gezeigt, was anfangs kaum etwas verändert – bis nach einem weiteren kleinen Schwenk im Hintergrund plötzlich eine S-Bahn auftaucht. Was vorher wie eine Kleinstadt wirkte, wird plötzlich Teil eines urbanen Szenarios.

Wimmelbücher haben ein enormes Potenzial, das im Comic erstaunlicherweise bisher kaum genutzt wird. Dabei ist die Form dem Genre nicht fremd: In der Comicfrühzeit gab es einige wimmelige Ansätze, unter anderem in Richard Outcaults The Yellow Kid, Winsor McCays Little Sammy Sneeze oder Lyonel Feiningers The Kin-der-Kids. Aber der Aufwand war wohl zu hoch für kommerzielle Zwecke, weshalb sich vermutlich auch heute nur wenige Künstler daran versuchen. Am bekanntesten ist Geof Darrow, dessen unfassbare Feinarbeit, die Frank Millers Hard Boiled trotz eines absurd dünnen Plots zu einem Klassiker veredelte. Noch weiter geht Darrow in seiner eigenen Serie Shaolin Cowboy, in der er vollkommene Leere (Inhalt) und totale Überfüllung (Bild) zu etwas verbindet, das man nur buddhistisch nennen kann. Auch Frank Quitely ließ schon kleine Wimmelbild-Ambitionen durchblicken, etwa in Flex Mentallo (Autor: Grant Morrison).

 
Frühes Wimmel-Beispiel: der erste Auftritt von Richard Outcaults The Yellow Kid.

Aber da könnte mehr gehen. Die Form schreit nach Inhalt. Ich will Wimmelbild-Krimis! Auch Doro Göbel und Peter Knorr verfolgen in ihren Büchern einen Ansatz, der über den Horizont von Dreijährigen hinausgeht. Ich würde es Social Fiction nennen: Geschichten über ein modernes, gemeinschaftliches, ausgewogenes, besseres Leben. Die Menschen in ihren Büchern sind aktiv, denken sich neue Sachen aus, begegnen sich auf Augenhöhe, haben eine gewisse Leichtigkeit, tauschen sich aus, kommunizieren, leben unnormiert, bunt und in Frieden – die Bücher erzählen von Utopien. Und der Inhalt passt fantastisch zur Form. Beides sehr modern.

[Peter Lau]

Abbildungen der Wimmebücher von Doro Göbel & Peter Knorr © 2019 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Cover des Frühlings-Wimmelbuchs von Rotraut Susanne Berner © 2012 Gerstenberg Verlag


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Oder beim Verlag: Beltz & Gelberg