»Auf der Mülltonne vorm Bahnhof saß ein riesiger Vogel. Er war so groß wie ein ausgewachsener Adler. Ich traute meinen Augen kaum. Doch als ich genauer hinsah, merkte ich, dass es ein Mensch war. Er aß sein Bento. Er sah aus wie ein Vogel, der sich über seine Beute hermacht.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Der nutzlose Mann
Text: Yoshiharu Tsuge
Zeichnungen: Yoshiharu Tsuge
Reprodukt
Softcover I 416 Seiten I s/w I 24,00 €
ISBN: 978-3-95640-215-9
Genre: Gekiga, Kurzgeschichten
Für alle, die das mögen: Fantastischer Realismus, Haikus, Stille
Es war einmal eine Zeit, in der Erfolg nicht der einzige Maßstab der persönlichen Existenz war. Es gab damals viele kleine Leben kleiner Menschen, die vor sich hin arbeiteten, ihre Familien liebten, ein wenig Spaß hatten, sich ab und an etwas gönnten, vielleicht einem Hobby nachgingen und ansonsten Gott vertrauten oder dem Kaiser oder woran auch immer sie glaubten. Das waren keine guten Zeiten: Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren starr und die Gewalt gegen alles, was nicht hineinpasste, enorm. Aber das Motto »Triumphiere oder stirb«, das sich mittlerweile zu dem Schimpfwort »Opfer« verkürzt hat, galt nur in der herrschenden Klasse, die mit dem Volk kaum zu tun hatte. Wer nicht dazugehörte, hatte die Freiheit, wenig zu sein. Ein Kampf aller um Aufmerksamkeit per Instagram-Account wäre unvorstellbar gewesen.
Sukegawa Sukezo, der Protagonist von sechs Episoden in Yoshiharu Tsuges Der nutzlose Mann lebt weder in dieser nicht so fernen Vergangenheit noch im Jetzt, sondern in dem bleiernen Zwischenraum der (vermutlich) 60er Jahre. Die alte Welt, in der das Versumpfen noch nicht die Negation aller gesellschaftlichen Maßstäbe war, gibt es nicht mehr, die neue Welt, in der sich jeder mit Kursen und Coaches für den ewigen Wettbewerb befähigen lassen kann, existiert noch nicht. Doch es gibt schon ihren Anspruch, dem Sukezo unwillig folgt – und dabei immer wieder scheitert.
Der nutzlose Mann umfasst zwölf Episoden, und alle sind auf die eine oder andere Art sehr gut, aber die sechs Kapitel über Sukegawa Sukezo gehören zum Besten, was ich jemals in einem Comic gelesen habe: Ein Mann, verheiratet, ein Kind, versucht, Geld zu verdienen. Vor einiger Zeit verkaufte er noch alte Kameras, was für eine Weile gut lief, doch dann ging ihm der Nachschub aus, und nun probiert er es mit Steinen. Ja, er verkauft Steine. Das klingt bescheuert, aber das ist es nicht, siehe unten. Das Geschäft läuft, nun ja, schlecht wäre eine Untertreibung, und so lebt die Familie von den geringen Einkünften seiner Frau. Auf den ersten Blick scheint es also, als ginge es um ökonomische Härten.
Doch das ist nicht der Punkt. Der Mann ist kein Trottel. Er ist Mangazeichner, hatte schon etwas Erfolg und würde einen Job finden, bemühte er sich bloß um einen. Doch er will nicht, er widmet sich lieber dem Suiseki, der Kunst, Steine meditativ zu präsentieren, weil sich auch damit Geld verdienen lässt – eine Lüge, die er vor allem sich selber erzählt. Und er ist umgeben von Männern wie ihm: Da ist ein Vogelhändler, der darauf beharrt, dass nur die unverkäuflichen einheimischen Vögel wirklich Wert haben. Oder ein Experte für Steine, der eine Auktion für die letzten Steinsammler organisiert. Und ein Antiquar, der so tut, als sei er gebrechlich, damit niemand etwas von ihm erwartet. Es wäre einfach, diese Leute Verlierer zu nennen, aber es wäre falsch, denn sie beteiligen sich nicht am großen Kapitalismusspiel, kein Interesse am Gewinnen. Der Vogelhändler etwa weiß genau, was das Problem ist.
Tatsächlich ist, was aussieht wie ein Abstieg in einen langsamen, staubigen Bankrott, eine andere Art von Leben. Diese Männer haben dafür sogar Vorbilder: Der Vogelhändler spricht von einem menschenscheuen Vogelfänger, den er einst kannte und der schließlich der Welt entflog. Ähnliches erzählt der Antiquar über den Haiku-Dichter Yananoya Seigetsu, der sich in die Wildnis zurückzog, in Armut und Demut, bis er endgültig aus dem Leben verblasst war. Den Dichter gab es wirklich, er war vergessen, bis ihn Tsuge in seinem Manga thematisierte – heute gehört er zum Haiku-Kanon.
Tsuge erzählte von einer Welt, in der Männer (ja, das ist ein Männerbuch) ihre Existenz auf das Praktizieren einer leisen Kunst und der Suche nach einer dahinter liegenden Leere reduzieren konnten. Das ist nahe am Buddhismus, dessen Lehre und Leere in Der nutzlose Mann immer wieder anklingt, aber selbst der wirkt hier nur wie eine Reaktion auf eine ganz basale Sehnsucht: sich endlich auf das Wenigste reduzieren zu können. Ein Männerwunsch, der wahrscheinlich nicht so selten ist, denkt an Paul Austers New York Trilogie. Dass die Hauptfigur Sukegawa Sukezo nicht einmal das versteht, ist eine bizarre Schlusspointe, die aber fein zu dem feinen Humor des Buches passt.
Yoshiharu Tsuge zeichnet, wie er erzählt: Klare, hoch konzentrierte Striche, jedes Bild eine exakte Komposition, im Verlauf zunehmend Weißraum, der Leere die Leere. Visuelle Lyrik. Er hat sich danach langsam zurückgezogen, ist selber verblasst, was einen nach der Lektüre nicht wundert. Wäre Der nutzlose Mann Prosa, wäre es Weltliteratur, zitiert von Kritikern, die sich auf Bücher stellen, um größer zu wirken, ohne zu merken, dass so jeder sehen kann, dass sie die Bücher nicht verstanden haben. Da es ein Comic ist, ist es ebenfalls Weltliteratur, aber ohne Kritiker, dafür können wir alle dankbar sein.
Die ersten sechs Geschichten in diesem Band sind thematisch ähnlich gelagert, wirken aber, als wäre Tsuge noch auf der Suche nach dem Kern seines Werkes, als rudere er vorsichtig um einen Strudel, von dem er ahnt, dass er ihn irgendwann hinabziehen wird. Ich habe keine Idee, wann diese Geschichten entstanden sind und wie es zu der Zusammenstellung kam, denn die einzige Schwäche dieses ansonsten auf jeder Ebene grandios produzierten Bandes ist das Fehlen einer Seite mit Quellen, Jahreszahlen, Daten. Stattdessen steht am Schluss ein langer, interessanter Artikel über Tsuges Werk, der Hintergründe liefert, ohne das Unsagbare zu thematisieren. Gut so!
[Peter Lau]
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