Heute gibt der Berliner avant-verlag sein Neuheitenprogramm für das erste Halbjahr 2016 bekannt. Neun Titel sind bis Juni 2016 geplant, darunter wieder Klassiker, von denen einer bis zu den Ursprüngen des Comics zurückreicht. Im CRON-Interview stellt sich Verlagsleiter Johann Ulrich Fragen zum neuen Programm.
avant-verlag Programmvorschau Frühjahr 2016
Die Novitäten der kommenden Monate
Der Berliner avant-verlag geht sein fünfzehntes Jahr. Der von Johann Ulrich 2001 gegründete Verlag besticht durch ein ausgewähltes Graphic-Novel-Programm. Auch für des kommende Jahr sind interessante Neuheiten angekündigt. Eine Titelübersicht findet sich am Ende des Interviews.
CRON fragt. Johann Ulrich antwortet.
Der Verlagsleiter im Interview
Das Programm des ersten Halbjahrs 2016 startet recht früh, im Januar mit einem Titel, den bei den ganzen Klassiker- und Gesamtausgaben-Forderungen von Seiten der Comicfans keiner so richtig auf der Rechnung hatte: Eternauta von Héctor G. Oesterheld und Francisco Solano López. Wie kam’s dazu, dass Du diesen Stoff aus den 1950er Jahren ins Programm genommen hast?
Eternauta ist mehr als ein Comic. Eternauta ist ein Mythos. In Italien und Spanien gab es in den 80ern Comicmagazine, die so hießen. Aber leider konnte ich selbst bis vor einigen Jahren nie einen Blick auf dieses legendäre Werk erhaschen. Inzwischen ist der allergrößte Teil der Seiten auf einem sehr gut restaurierten Stand bzw. wurde neu von den Originalen eingescannt.
Eternauta hatte ich immer im Hinterkopf für das Programm des avant-verlags. Neu ins Bewusstsein ist es mir gekommen als Anna Kemper im ZEIT Magazin Anfang des Jahres über den Comic und die tragischen Parallelen zu Oesterhelds dramatischer Geschichte aufgezeigt hat. Oesterheld zählt ja, zusammen mit seinen vier Töchtern, zu den »Desaparecidos«, den von der Militärdiktatur verschleppten und bis heute verschwundenen Oppositionellen.
Vieles, was in Eternauta erzählt wird, wirkt wie eine Vorahnung auf sein eigenes Schicksal. Eternauta erschien von 1957 bis 1959 im argentinischen Comicmagazin Hora Cero, aber erst mit der Buchausgabe in den 70ern wurde er zu einer Ikone für Widerstand und Selbstorganisation angesichts eines übermächtigen Feindes. Das gibt dem Buch eine Gänsehaut erzeugende Brisanz. Eines der wichtigsten Bücher Argentiniens überhaupt und sicherlich das Meisterwerk der lateinamerikanischen Comicproduktion.
Oesterheld selbst ist mit seinen geschätzt 160 Comicreihen und vor allem als Verleger der Editorial Frontera fast allein verantwortlich für diese Blüte, das sogenannte Golden Age, der argentinischen Comics in den 50er und 60er Jahren. Er arbeitete mit einigen der ganz großen Zeichner jener Jahre zusammen: Hugo Pratt, Solano López, Alberto Breccia, Arturo del Castillo, Dino Battaglia, und viele andere mehr.
Argentinien war zu der Zeit einer der größten Comicmärkte der Welt, weswegen etliche Italiener auch nach Buenos Aires übersiedelten. Aber Oesterheld war einer der ersten in der westlichen Welt, der anfing das übliche Schwarzweiß-Denken in seinen Szenarios hinter sich zu lassen. Das ist spannend zu verfolgen. Ich behaupte, dass die Wiege des Erwachsenencomics in Argentinien liegt und sein Schöpfer war Héctor G. Oesterheld. Eternauta ist sein bekanntestes Buch!
Eine mutige Behauptung! Wobei das ganz schön gespannt macht auf dieses Werk, welches ich selber nur vom Hören-Sagen kenne.
Die Publikation wird flankiert durch eine große Ausstellung im Literaturhaus Stuttgart, die am 18. Januar 2016, 20.00 Uhr eröffnet wird. Neben José Munoz werden auch Anna Kemper, Peer Steinbrück und ich das Publikum mit weiteren Details zu dem Buch versorgen. Die Ausstellung wird noch bis 15. April 2016 zu sehen sein und neben dem Comic und seinem Autor auch weitere Teilaspekte der Militärdiktatur beleuchten. Weiter Stationen sind in Planung.
Das klingt interessant. Wie ist das mit dem Künstler? Francisco Solano López hat ja danach ziemlich viel gezeichnet, z.B. Kelly’s Eye, was in Deutschland unter dem Namen Das magische Auge lief. Kommt das dann nach Eternauta? [schmunzelt]
Ich könnte mir durchaus vorstellen, mehr Perlen aus Argentinien zu heben. Auch von Oesterheld/Lopez gäbe es noch andere Arbeiten. Aber die Auftragsarbeiten, welche die Autoren während und nach der Militärdiktatur für Großbritannien machten stehen nicht auf meiner Prioritätenliste. Verglichen mit den argentinischen Arbeiten waren das reine Brotjobs, die für das Medium unerheblich sind und mich nicht interessieren.
Holland ist nicht bei der Fußball-EM 2016. Fast die Hälfte, rund 44%, des neuen avant-Programms sind Titel aus den Niederlanden. Das kann kein Zufall sein … ? [lacht]
Wir haben sowohl flämische als auch holländische Autoren massiv im aktuellen Programm. Das hat natürlich mit dem Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse zu tun, aber auch weil ich viele der Autoren seit Jahren persönlich kenne und ich Anfang des Jahres für einige Tage vor Ort war. Es gibt eine lebendige Szene von herausragender Qualität und wir haben ja auch in der Vergangenheit schon einiges aus diesen Ländern publiziert: Erik Krieks Lovecraft-Adaptionen, Peter van Dongens Rampokan, Brecht Vandenbroucke, usw.
Von Erik wird es 2016 endlich ein neues Buch geben: In the Pines. Das sind als Kurzgeschichten umgesetzte »Murder Ballads« aus klassischen US-Folksongs. Schaurige Geschichten um Eifersucht, Mord, Geister und Rassismus. Und, im Gegensatz zu Vom Jenseits, diesmal mit einer Zweitfarbe wunderschön und detailliert in Szene gesetzt. Eine tolle Arbeit!
Guido van Driel ist eigentlich Regisseur und hat in den Niederlanden auch schon den einen oder anderen vielgelobten Kinofilm gemacht. Wir kennen uns seit Jahren und nun ist der Anlass natürlich hochwillkommen, um zumindest eine seiner insgesamt fast zehn Graphic Novels ins Deutsche zu übertragen. Ich habe mir ein relativ altes Buch von ihm ausgesucht, weil ich es sehr unbefriedigend fand wie es bislang erschienen ist. Wir nehmen das Originalmaterial und bauen alles akribisch neu zusammen - eine Heidenarbeit, denn das Buch besteht nicht aus Seiten, sondern jedes Panel ist eine eigene Datei! Aber wir werden daraus ein »schönes« Buch machen, das sich deutlich von dem holländischen Original unterscheiden wird.
Die Geschichte von Als wir gegen die Deutschen verloren haben ist eine Sommergeschichte. Es ist 1974 und Cruyff, Neeskens und der Rest der Ajax-Fußballer haben das WM-Finale unglücklich verloren. Das ganze Land hat den Blues und in dieser Situation lernen sich zwei Jugendliche kennen und verbringen einige Ferientage zusammen. Das ganze wird überschattet von dem Verschwinden einer Mitschülerin. Und wie van Driel diese Geschichte erzählt ist ausgesprochen fein und große Comickunst.
Die Dickie-Gags kenne ich seit fast 15 Jahren und hatte schon seit längerem mit der Idee gespielt, diese Reihe zu verlegen. Schwarzer Humor wie er für die flämisch-holländische Szene exemplarisch ist! Manchmal bleibt einem auch das Lachen im Halse stecken. Großartig! Wir werden den im Original in Albenform veröffentlichten One-Pager ein Facelifting verpassen und sie im Querformat auflegen. Das wird die beste Ausgabe weltweit! Pieter der Poortere ist derzeit dabei, eine Reihe von Animationen mit Dickie zu entwickeln. Wer weiß - vielleicht findet sich ja auch in Deutschland ein Sender dafür ...
Und dann gibt es mit Hieronymus Bosch eine neue Künstlerbiografie. Marcel Ruijters, der Spezialist für Geschichten aus dem Mittelalter, geht den kaum bekannten Fakten zu Boschs Leben auf den Grund. Dieser verstarb exakt vor 500 Jahren. Aber wer war er? Oder wie viele?
Ruijters lässt uns in seiner Biografie tief in das Mittelalter eintauchen und legt neben den historischen Fakten auch die Inspirationsquelle für viele der Kreaturen in Boschs Gemälden offen. Und Marcel ist ein Guter: Er wurde für sein Werk vor kurzem mit der höchsten niederländischen Auszeichnung für Comiczeichner, dem Stripschap-Preis, geehrt. Hieronymus Bosch ist sein Debüt in Deutschland.
Aber keine Angst: Im 2. Halbjahr stehen auch noch flämische und niederländische Comics auf meinem Programmplan ... Da kommen noch einige Überraschungen dazu.
Jetzt müssten sie nur noch mit der Elftaal nachziehen. Übrigens - ein Viertel der Titel sind der Sparte »Humor« zuzurechnen. Was hat es damit auf sich? Rätsel über Rätsel. [lacht]
Was heißt das? Dass es dies die Anzeichen für eine Art »Cartoon-Label« sind, das es ab Herbst geben wird?
Nein - da verwechselst du etwas. Wir machen keine Cartoons. Wir machen nach wie vor Comics. Aber es müssen nicht immer die »ernsten« Themen im Vordergrund stehen. Titel wie Friends oder Pinocchio waren auch in der Vergangenheit subversive Kleinode der 9. Kunst. Im Frühjahrsprogramm gibt es einfach einen größeren Nachschlag an Humor als üblich.
Was ist zu dem neuen Comic von Birgit Weyhe, Madgermanes, aus Deiner Sicht zu sagen?
Ein wirklich interessantes und brisantes Thema. Denn es gibt kaum Literatur zu den mosambikanischen Vertragsarbeitern von denen immerhin an die 30.000 jahrelang in der DDR gelebt und gearbeitet haben. Die meisten sind um 1990 in ihre Heimat zurückgekehrt, allerdings warten viele bis heute auf den von der Regierung zum Teil einbehaltenen Lohn. Birgit Weyhe recherchiert seit Jahren in Deutschland und Mosambik zu diesem Thema und hat viele Betroffene interviewt ...
Daraus entsteht ein bemerkenswertes Buch, das sich dieser Fußnote der deutschen Geschichte widmet. Denn kaum einem der ehemaligen Vertragsarbeiter gelang der Neustart in der Heimat. Warum das so ist, erfährt man durch dieses Buch.
Aber es geht auch um den Begriff »Heimat« und um die Frage: Wie authentisch ist Erinnerung? Eine wirklich lohnende Lektüre. Zudem das erste Mal das Birgit Weyhe Farbe in ihre Arbeit integriert und das ist ein echter Quantensprung - sieht toll aus. Aus 133 Einreichungen wurde Madgermanes mit dem Comicbuchpreis der Bertold Leibinger Stiftung ausgezeichnet!
Viele haben gehofft, dass weitere Titel des Zeichners Brüno (Atar Gull) von Dir nach Deutschland geholt werden. Tyler Cross hattest zu in einem der letzten CRON-Interviews selbst genannt. Jetzt kommt dieser bei Carlsen. Wieso wolltest du den nicht mehr publizieren?
Na so viele können es auch nicht sein, denn die Verkäufe von Atar Gull waren für uns sehr, sehr enttäuschend. Man darf an dieser Stelle nicht Foren-Einträge mit tatsächlichem Interesse verwechseln. Tyler Cross sollte ursprünglich ein One-Shot sein. Dann war der erste Band in Frankreich so erfolgreich, dass es sich nun zu einer Serie entwickelt hat. Ich hatte ursprünglich abgewartet, um zu sehen wie wir dieses Material optimal ver/bearbeiten. Eventuell gleich als Gesamtausgabe? Wir hatten das erste Album allerdings schon zwei Mal verschoben ...
Als der Carlsen Verlag wegen Tyler Cross an mich herantrat, war ich nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht sogar ein Fortschritt für Brünos Rezeption in Deutschland sein könnte. Wir haben so viele Pläne, dass wir dadurch etwas Luft im übervollen Programm gewonnen haben - auch nicht schlecht. Und ich freue mich sehr, diese Serie bei Carlsen zu sehen. Brüno ist wirklich außergewöhnlich. Er erzählt mit einem aus der frankobelgischen Schule entwickelten zeitgemäßen Strich Geschichten mit einem modernen Twist, den man erst auf den zweiten Blick wahrnimmt, der an Tarantino oder Peckinpah erinnert ...
Und vielleicht entdeckt ja der eine oder andere Leser auch noch Atar Gull - lohnen würde es sich!
Welche Aktivitäten sind für die Leipziger Buchmesse geplant?
In Leipzig planen wir mit unseren im Frühjahrsprogramm vertretenen flämischen und niederländischen Autoren aufzutreten. Godverdomme!
Wenn alles klappt werden Erik Kriek, Pieter de Poortere, Marcel Ruijters und Guido van Driel vor Ort sein. Sowohl auf der Buchmesse als auch auf dem Millionaires Club, der ja parallel in Leipzig stattfinden wird.
Und welche für den Comic-Salon in Erlangen?
Wir werden mit Birgit Weyhe, Ville Tietäväinen und darüber hinaus mit vielen weiteren nationalen und internationalen Gästen wieder vor Ort sein und ein rauschendes Comicfest feiern. Es gibt auch weitergehende Pläne was Ausstellungen, Events anbelangt, aber es ist noch zu früh um das heute öffentlich zu machen. Die Planung läuft ja erst an ...
Die Fragen stellte Matthias Hofmann
;Abbildungen + Foto © avant-verlag
avant-verlag Neuheiten-Programm 1. Halbjahr 2016
Januar 2016
Eternauta
Héctor G. Oesterheld/Francisco Solano López
392 Seiten, Hardcover mit Spotlack, 28 x 22 cm, s/w, 39,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-35-4
Februar 2016
Rodolphe Töpffer - der Vater des modernen Comic
Rodolphe Töpffer, Simon Schwartz (Hrsg.)
280 Seiten, Hardcover mit Leinenrücken, 30 x 20 cm, Pantonedruck, 39,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-28-6
Hieronymus Bosch
Marcel Ruijters
160 Seiten, Hardcover mit Spotlack, 18 x 27,5 cm, vierfarbig, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-36-1
März 2016
Als wir gegen die Deutschen verloren haben
Guido van Driel
96 Seiten, Hardcover, 17 x 24 cm, vierfarbig, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-38-5
Geschichten aus dem Viertel — Wege
Gabi Beltrán/Batholomé Seguí
160 Seiten, Softcover, 17 x 24 cm, vierfarbig, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-39-2
Dickie
Pieter de Poortere
216 Seiten, Hardcover mit Spotlack, 15 x 22 cm, vierfarbig, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-40-8
In the Pines
Erik Kriek
128 Seiten, Hardcover mit Spotlack, inkl. CD, 20 x 27 cm, vierfarbig, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-37-8
Mai 2016
Madgermanes
Birgit Weyhe
240 Seiten, Klappenbroschur, 17 x 24 cm, Duotone, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-42-2
Juni 2016
In God we trust
Winshluss
104 Seiten, Hardcover mit Prägegolddruck, 22 x 26,5 cm, vierfarbig, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-41-5
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Verlagshomepage: avant-verlag