»Vergib mir, Sohn, dein Fleisch ist aufgrund unserer Verfehlungen gegenüber dem Schöpfer entstellt und dein Geist verwirrt.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Daisy
Story: Colin Lorimer
Zeichnungen: Colin Lorimer
Cross Cult
Hardcover │ 128 Seiten│ Farbe│ 22,00 €
ISBN: 978-3-98666-079-6
Genre: Horror, Mystery
Für alle, die das mögen: Preacher, Hellblazer
Eine Horrorstory, die sich auf ein apokalyptisches Buch bezieht, das vom biblischen Kanon ausgeschlossen wurde und in der Gegenwart spielt? Das verheißt prickelnde Unterhaltung, und Colin Lorimer liefert auf den ersten Seiten auch tatsächlich ab.
Es geht in eine amerikanische Kleinstadt zu Kindern, die aus eben jenem Henoch-Buch lesen. Und die Gruppe hört gebannt zu. Sie erfahren von Engeln, die sich vor langer Zeit von der Schönheit der Menschenfrauen in den Bann ziehen ließen und beschlossen, mit ihnen zu leben und Nachwuchs zu zeugen. Mit unerwarteten Ergebnissen: Anstelle von normalen Kindern werden Riesen geboren, die die Welt verheeren. Zunächst verputzen sie alle Lebensmittelvorräte bis zum letzten Krümel, fallen danach über Tiere und Menschen her und wollen nicht einmal vor den Engeln halt machen. Doch die himmlischen Wesen sind, im Gegensatz zu den Menschen, stark genug, um sich effektiv zu wehren. Lorimer illustriert dieses mörderische Treiben mit verbogenen Gliedmaßen, haufenweise Knochen und Gebeinen, und die Koloristin Joana Lafvente hüllt seine realistischen Zeichnungen in dunkle, blaugraue Farben.
Eine Szene aus dem Henoch-Buch.
Im Hier und Jetzt geht es mit Wumms weiter. Lindsay sucht seit Jahren nach ihrem verschwundenen Sohn und kommt durch einen anonymen Anruf in diese Gegend. Hier trifft sie auf den Teenager Daisy, die beeindruckend und zugleich befremdlich aussieht: Sie ist über zweieinhalb Meter groß. Doch bevor die beiden miteinander reden können, wird Lindsay vom örtlichen Sheriff über den Haufen geschossen. Die Optik stimmt, die Action passt.
Gruselig: Daisy ist wirklich sehr groß; so groß, dass sie eine ganze Doppelseite ausfüllt.
Wer aber nun glaubt, dass jetzt ein wilder Ritt beginnt, wird enttäuscht. Die Spannungskurve flacht abrupt ab, obwohl Lorimer mit interessanten Elementen jongliert. Mit einem Gerüst aus Religion, Glauben und Glaubensbekenntnissen will er eine Story voller Schmerz, Gewalt und Chaos schaffen. Das Konzept geht aber nicht auf, denn nach dem gelungenen Intro entwickelt er seine Charaktere nicht weiter. Er stattet sie nur mit geringer emotionaler Tiefe aus und so agieren diese recht kühl und steif. Gerne würden wir erfahren, wie Daisy mit ihrer unnatürlichen Größe mit anderen Menschen zurechtkommt und wie sie damit umgeht, dass sie ihren Körper mit einer Vielzahl an Prothesen stützen muss, um sich bewegen zu können. Lorimer will das aber nicht durchspielen. Schade, denn das hätte uns Daisy wahrscheinlich nähergebracht. Dadurch aber, dass er es nicht schafft, tiefe Gefühle auszudrücken, raubt er der Handlung viel an Bedeutung. Er sperrt uns emotional aus, zieht uns nur teilweise ins Geschehen, sodass wir die Seiten immer öfter unbeteiligt umblättern.
Das wirkt sich auch auf das Seherlebnis aus. Da es uns nicht sonderlich berührt, was die Akteure durchleben, verpufft auch die Wirkung einzelner beeindruckender Panelsequenzen. Etwa die mit dem toten Rehbock, dem verwestes Fleisch vom Skelett baumelt und der reanimiert wird und zu gespenstischem Leben erwacht. Diese detailfreudig gezeichnete Abfolge funktioniert isoliert sehr gut, macht Spaß und beschert schöne Schreckmomente. Doch im Zusammenspiel mit dem oben Geschilderten verblasst dieses Highlight leider allzu schnell. Und das zieht sich durch das ganze Album.
Eine Seite mit Knalleffekt: Lindsay fängt sich eine Kugel ein.
Schade, denn Lorimers Grundidee ist gut, hat Potenzial. Aber die Umsetzung sorgt dafür, dass der Funke leider nicht überspringt.
[Walter Truck]
Abbildungen © 2023 Cross Cult / Colin Lorimer
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