»Ich kann nicht dein Vater sein. … Tut mir sehr leid …«
FRISCH GELESEN: Archiv
Sunny, Band 3
Story: Taiyo Matsumoto
Zeichnungen: Taiyo Matsumoto
Carlsen Manga
Softcover | 224 Seiten | s/w | 16,00 €
ISBN: 978-3-551-75459-2
Genre: Manga, Kindheitsdrama, Coming-of-Age-Storys
Für alle, die das mögen: Ausnahmemanga mit europäischem Einfluss
Es ist ein seltenes Gut, wenn ein Comiczeichner gleichzeitig als Ausnahmekünstler gilt und im Mainstream angekommen ist. In Japan gilt Taiyo Matsumoto als solch ein Mangaka. Seine Manga lassen sich nicht in Schubladen einordnen, und sein Zeichenstil ist facettenreich und passt sich seinem Sujet an. Besonders bemerkenswert ist, dass er es im Laufe seiner Karriere immer wieder sehr erfolgreich geschafft hat, sich dem Diktat der japanischen Verlage zu entziehen. Durch die übliche Veröffentlichungsweise eines Mangas mit je einem Kapitel pro Erscheinungsturnus des Magazins wird auf die Mangaka seitens des Verlags viel Druck ausgeübt bezüglich der Deadlines. Und auch die Leserschaft kann recht konkret auf den inhaltlichen Verlauf Einfluss nehmen, indem sie spezifische Rückmeldungen zu konkreten Charakteren oder Handlungssträngen macht. Matsumoto genoss hier schon sehr früh einen Sonderstatus. So erschien sein Einzelband GoGo Monster nicht vorab in einem Magazin, was eine Rarität auf dem japanischen Comicmarkt ist.
Die Beziehung zwischen den erwachsenen Erziehungsberechtigten und den Kindern wird durchgehend als herzlich und warm dargestellt.
Auch wenn Matsumoto als sehr vielseitiger Mangaka gilt, gibt es doch ein Thema, dessen er sich immer wieder annimmt: auf sich gestellte Kinder, die mit der Komplexität des Erwachsenwerdens zurechtkommen müssen. Eltern kommen in seinen Erzählungen nur als farblose Randfiguren vor, was aber in vielen Teenagermanga förmlich eine Notwendigkeit ist, um eine Charakterentwicklung gewährleisten zu können. Bei Matsumoto ist es aber mehr. Es ist eine schmerzende Leerstelle, es ist kein »Hurra, niemand schreibt mir vor, wann ich ins Bett muss«. Der Hintergrund hierzu schlummerte lange Jahre im Verborgenen und offenbarte sich erst durch sein neuestes und persönlichstes Werk Sunny. Hier wird in Episoden die Geschichte der Sternkinder erzählt, Kinder die in einer ländlichen Gegend Japans in den 1970er Jahren in einem Kinderheim aufwachsen. Manche sind Waisen, die meisten aber wurden von ihren Eltern im Heim abgegeben, aus den unterschiedlichsten Gründen. Mit der Veröffentlichung von Sunny teilte Matsumoto erstmalig der Öffentlichkeit mit, dass er selbst als Kind in einem ähnlichen Heim gelebt hat, in das er von seiner Mutter gebracht wurde. Er betont, dass es sich bei der Geschichte nicht um eine Autobiografie handelt, viele Charaktere und Episoden aber an Erinnerungen aus seiner Kindheit anknüpfen. Ganz besonders jedoch sind die emotionale Tiefe und der scharfe Blick auf die verletzte Kinderseele wie auch die stark aus Kindersicht geprägte Handlungsweise der Eltern, die meist gar nicht gut wegkommen, wohl sehr authentisch und zeugen von dem tiefen Trauma, das die Separierung von der Mutter in Matsumoto erzeugt hat.
Makio – das erwachsene Sternkind – ringt nach Zugehörigkeit.
In seinen Zeichnungen lehnt Matsumoto seit jeher digitale Techniken ab und arbeitet strikt analog. Der Einsatz von Rasterfolien oder anderer gängiger visueller Mittel des Mangas liegt ihm fern. Trotzdem durchläuft sein Stil permanente Änderungen. So ist in Sunny zu bemerken, dass er einen weichen Strich verwendet und Aquarelltechniken einsetzt. Das ist besonders beeindruckend an der wilden Mähne der Brüder Junsuke und Shosuke zu sehen, deren eigenwilliger Charakter dadurch stark betont wird. Der Manga erhält durch diesen Stil eine Art Weichzeichnereffekt, der zu diesem gewissen nostalgischen Rückblick passt, den Matsumoto hier vornimmt. Denn trotz allem zeichnet er ein gutes Bild vom Heimleben mit bemühten und liebevollen Heimmitarbeiterinnen und -mitarbeitern und einem starken Zusammenhalt unter den Heimkindern.
Der dem Manga namensgebende Datsun Sunny 1200, ein altes Autowrack, das den Kindern als Rückzugsort dient, in dem sie ihren Fantasien gleichermaßen wie ihrer Trauer und ihren Träumen freien Lauf lassen können, spielt im dritten Band nur noch eine untergeordnete Rolle. Spannend ist, dass hier nun auch andere Charaktere als nur die Kinder des Heims in den einzelnen in sich geschlossenen Kapiteln beleuchtet werden – der uralte, greise Direktor oder sein, wie es scheint, Protegé Makio, der in dem Heim aufgewachsen ist, aber doch immer wieder zu ihm zurückkehrt. Eine weitere Geschichte lässt die Star Kids tatsächlich zu kleinen Stars werden, in dem ein Kamerateam eine Reportage über sie dreht. Am Ende werden sie aber wieder in ihre Realität zurückgeholt, dass sie eigentlich keine Chancen haben, dem Leben als Heimkinder zu entfliehen. Besonders dramatisch ist die Erzählung um die bereits erwähnten Brüder Junsuke und Shosuke, die ihre todkranke Mutter besuchen dürfen. Junsuke lebt die Flucht vor seiner Realität in der Form aus, dass er mit seinem kleinen Bruder ein Kaufhaus für sich erobert. Doch auch in dieser sehr traurigen Episode schafft es Matsumoto wie im gesamten Manga, nicht kitschig zu werden, die alles überlagernde Melancholie nicht aus dem Blick zu verlieren und seine teils tief erschütterten und traumatisierten Charaktere nicht schwach oder ohne Hoffnung erscheinen zu lassen.
Die Klarheit in ihrem Kindsein macht die Besonderheit der Charaktere Matsumotos aus.
In vielerlei Hinsicht erinnert mich Sunny an Astrid Lindgrens Wir Kinder aus Bullerbü. Eltern kommen hier auch nur als Randfiguren vor und in kleinen Episoden erfahren wir aus dem Alltag der Kinder, der so vor sich hinfließt, ohne dass wirklich nennenswertes passiert. Nur wo sich Lindgren in Kitsch und der schwedischen Version von Hygge ergeht, zeugt Sunny von Reife und Tiefe, zeigt uns Figuren, die uns wirklich berühren und deren Erlebnisse, so nichtig sie auch auf den ersten Blick wirken, in uns nachhallen.
[Mechthild Wiesner]
Abbildungen © 2021 Carlsen Manga / Taiyo Matsumoto / Shogakukan
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