»Aber vorher möchte ich mich mit dir über etwas unterhalten. Über etwas, das du tun kannst, und ich nicht.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Sleep Little Baby – Gesamtausgabe
Story: Philippe »Tome« Vandevelde
Zeichnungen: Ralph Meyer
Schreiber & Leser
HC | 168 Seiten | Farbe | 34,80 €
ISBN: 978-3-96582-028-9
Genre: Crime
Für alle, die das mögen: Taxi Driver, 8 Blickwinkel
Joe Telenko, Yellow-Cab-Fahrer in New York, gesundheitlich ziemlich am Ende, geschlagen mit seiner Frau Martha, die im Rollstuhl sitzt und ihm das Leben zur Hölle macht, kennt nur noch einen Wunsch: Martha umzubringen. Der Zufall spielt ihm in die Hände, fehlgeschlagene Überfälle auf ihn und sein Taxi bescheren ihm eine Waffe und einen willfährigen Mörder. Unterstützt von seinem Freund und Leibarzt Arthur, der sich auf seine Art von seiner Frau »getrennt« hat, schmiedet er einen todsicheren Plan, der natürlich völlig schiefgeht. Ende Kapitel eins, das Mitgefühl gehört zu 100 Prozent dem unglücklichen Taxifahrer. Wer kann ihm die verunglückte Tat verdenken und wer leidet jetzt nicht mit ihm, der weiter mit seinem verpfuschten Leben zurechtkommen muss?
Vereitelter Überfall: Taxifahrer Joe kommt an eine Waffe.
Rückblende in eine andere Zeit. Joe Telenko, der Heißsporn und Tunichtgut verdreht der angehenden Tänzerin Martha den Kopf und verursacht durch Trunkenheit einen folgenschweren Unfall. Martha sitzt seitdem im Rollstuhl und kann den offensichtlichen Hass ihres Manns nicht mehr ertragen. Gemeinsam mit Joes »Freund« Arthur plant sie den Gegenangriff – aber auch das geht schief.
Diese zweite Perspektive der Geschichte offenbart eine ganz andere Sicht: Martha wird tatsächlich nicht viel sympathischer, aber Joes Beliebtheit sinkt mit zunehmender Lektüre. Wie in dem Film 8 Blickwinkel mit Matthew Fox, Forest Whitaker und Dennis Quaid wird die Geschichte zusehends vielschichtiger, und ich würde das Lesevergnügen deutlich schmälern, wenn ich an dieser Stelle die dritte Facette verriete. Also lassen wir das und begnügen uns mit der Aussicht, dass der finale Blickwinkel die Geschichte auf ein völlig neues Niveau hebt.
Ralph Meyers Farbgebung: reduziert mit gelben Akzentuierungen.
Passend zu der teils bedrückenden Geschichte ist die Farbgebung von Ralph Meyer: ein reduziertes Schwarz-Weiß-Braun. Hinweise gibt eine smileyhafte gelbliche Einfärbung des Taxis, des Rollstuhls und erklärender Textpassagen, bevor die Geschichte am Ende eine befreiende und fast erlösende Farbigkeit bekommt.
Ich kann mich nur wiederholen, dass ich selten so einen vielschichtigen Comic gelesen habe, und bin fast dankbar, dass ich erneut mit der Nase darauf gestoßen worden bin, denn nach der eigentlichen Rezension komme ich noch zu ein paar Gedanken zum Titel der Story. Im Original ist es Berceuse Assassine oder Lethal Lullaby in der englischen Variante, in der ersten Ausgabe im Verlag Thomas Tilsner unter dem XXL Speed Label war es Tödliches Wiegenlied und damit mehr oder weniger eins zu eins übersetzt. Warum diese Geschichte jetzt einen neuen Namen bekommen hat, wird wohl nur der Verlag beantworten können. Damals war es ein Dreiteiler, der pro Ausgabe 24,80 DM gekostet hat und damit in etwa so teurer war, wie jetzt die Gesamtausgabe. Etwa 20 Jahre später gibt es eigentlich keinen Grund, den Titel zu ändern, oder wollte man damit »verschleiern«, dass es schon eine Veröffentlichung gab?
Die limitierte Vorzugsausgabe enthält diesen schönen Sonderdruck.
Seit damals hat Ralph Meyer mit Undertaker und Asgard (beide mit Xavier Dorison, Splitter) für Furore gesorgt und Tome, der 2019 leider viel zu früh gestorben ist, hatte mit seinen Arbeiten an Spirou und Fantasio, Der kleine Spirou oder Soda ein ganz anderes Genre bedient, ohne zu vergessen, dass er mit der Straße nach Selma (mit Philippe Berthet, Schreiber & Leser) schon einmal sein gewohntes Terrain verlassen hatte.
Insofern kann man mit dem Fazit schließen, dass diese Neuedition längst überfällig gewesen ist und nicht nur einen echten Meilenstein in den Veröffentlichungen der beiden Künstler, sondern auch ein kleines Highlight in diesen komischen und zum Teil abstrusen Zeiten darstellt.
[Stephan Schunck]
Abbildungen © 2020 Schreiber & Leser
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