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Frisch Gelesen Folge 396: Die Nächte des Saturn

 

»Du bist keine Frau, stimmt's? Hat es dir denn nicht gefallen? Hau ab.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Die Nächte des Saturn

Story: Marcus Malte
Zeichnungen: Pierre-Henry Gomont

Schreiber & Leser
Hardcover | 160 Seiten | Farbe | 27,80 €
ISBN: 978-3-96582-167-5

Genre: Road Movie, Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Tödliche Versprechen – Eastern Promises, A History of Violence, Nationalfeiertag



Beim Lesen von Die Nächte des Saturn habe ich mich zwangsläufig gefragt, was wohl der Titel bedeuten soll. Konzentriert man sich auf die negativen Eigenschaften des Saturn, dann sind das Strenge, Einschränkung, Pessimismus, Starrheit, Kälte, Distanziertheit und Perfektionismus. Lässt man die positiven Eigenschaften außer Acht, dann bekommt man schon eine ganz gute Einschätzung von dem, was man von Szenarist Marcus Malte und Zeichner Pierre-Henry Gomont erwarten kann.

Klingt erst einmal negativ, entpuppt sich aber als eine kleine Offenbarung der Neunten Kunst. Vorab kann ich schon sagen, dass mich selten ein Comic optisch und erzählerisch derart von der ersten Seite an gefesselt hat. Doch worum geht's?

Clovis, ehemaliger Extremist und Mitglied einer autonomen Zelle, wird nach Jahrzehnten aus dem Knast entlassen und sinnt auf Rache. Und das kam so: Eine minutiös geplante Ausschleusung von Mario, einem gesuchten Radikalen und italienischen Aktivisten, geht schief. Einige Teilnehmer der Aktion sterben, andere werden verhaftet. Für Clovis ist klar, dass es unter ihnen einen Verräter geben muss und dieser nur William sein kann.

Auf der Suche nach William lernt Clovis die blutjunge Transfrau Cesaria kennen, die ihr Geld auf dem Strich verdient. Trotz seiner Vorbehalte und Distanziertheit ist er von ihr fasziniert und nimmt sie mit auf seinen Rachefeldzug. Kaum nachvollziehbar ist, warum auch Cesaria alles hinter sich lässt und Clovis folgt. Desillusioniert und ohne festen Halt, sieht sie in Clovis vielleicht einen adäquaten Counterpart, der ihr aus ihrer aussichtslosen Situation heraushelfen kann.

In Rückblenden erzählt Clovis Cesaria die ganze Geschichte aus seiner Sicht. Als er dann auf den vermeintlichen Verräter William trifft, kommt es zur Eskalation. Schwer verwundet muss Clovis zusehen, wie Cesaria William erschießt, allerdings ohne dass die Probleme gelöst wären. Jetzt haben die beiden nämlich auch noch Williams Frau und ihren kleinen Sohn an der Backe. Auf ihrer weiteren Odyssee findet Clovis endlich zu sich, leider zu spät.

Marcus Malte (geb. 1967) ist ein französischer Schriftsteller, der für Le Garçon 2016 den Prix Femina erhielt, einen Preis, der von einer ausschließlich weiblichen Jury vergeben wird. Pierre-Henry Gomont (geb. 1978) ist ein französischer Comiczeichner, der sein Debüt 2011 mit Kirkenes, einer von Jonathan Châtel geschriebenen und von Les Enfants Rouges veröffentlichten Graphic Novel gab. Die Nächte des Saturn ist in Frankreich bereits 2015 erschienen; es handelt sich um eine Adaption von Maltes Roman Carnage, constellation aus dem Jahr 1998.

Weder Autor noch Zeichner habe ich bisher auf dem Schirm gehabt, aber nach der Lektüre von Die Nächte des Saturn wird sich der Fokus verändern.

Gomont erzählt diese Geschichte in völlig entspannten Bildern, konträr zur Handlung. Dazu benutzt er die Technik der Direktkolorierung. Dabei definiert in der Regel eine Bleistiftskizze die Grundstruktur der Seite und dann wird – ohne zu tuschen – direkt mit Farbe gearbeitet. Durch diese Technik gelingt es ihm, seinen Charakteren Tiefe und Emotion zu verleihen, und er erzeugt damit eine atmosphärische Dichte. Allein die Bilder des jungen und alten Clovis spiegeln sich in dieser Kunstfertigkeit wider – Gomont schafft es, die Alterung des ehemals euphorischen Extremisten zu einem verbitterten Ex-Knacki völlig glaubhaft darzustellen – Wahnsinn!

Neben Gomont benutzen auch andere Comickünstler diese Technik, z. B. Hermann seit 1969, Bilal für seine Nikopol-Trilogie oder auch Blutch. Aber Gomont schafft damit in diesem Band ein wirklich bemerkenswertes Gesamtkunstwerk.

Graphic Novels gibt es wie Sand am Meer, Road Movies auch. Die Nächte des Saturn sticht aus dieser Masse heraus und es sollte mich nicht wundern, wenn der Titel auf vielen Listen der besten Comics des Jahres erscheinen würde.

Fazit: Terrasse, Balkon, die nächste Wiese – ein Glas Wein (oder andere Getränke), die Sonne genießen und entspannt diese Geschichte verfolgen.

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2024 Schreiber & Leser / Marcus Malte, Pierre-Henry Gomont


Den Comic gibt's im gut sortierten Comicfachhandel oder direkt beim Verlag: Schreiber & Leser