Frisch Gelesen Folge 333: Nationalfeiertag

»Irgendwann haben die Leute die Nase voll und schießen einfach einen ab. Und recht haben sie.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Nationalfeiertag

Story: Martin Quenehen, Bastien Vivès
Zeichnungen: Bastien Vivès

Schreiber & Leser
Hardcover | 256 Seiten | s/w | 24,80 €
ISBN: 978-3-96582-116-3

Genre: Graphic Novel, Zeitgeschehen

Für alle, die das mögen: Corto Maltese, Die Bluse



Wahrscheinlich ist in Frankreich spätestens seit 2015 mit dem islamistischen Anschlag auf die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar und mit den koordinierten Terroranschlägen im November alles anders, als es vorher war. Damals wurden mehr als 130 Personen getötet und fast 700 verletzt. Der Horror des fundamentalistischen Islamismus hatte in Europa ein neues Gesicht bekommen. Damit nicht genug, der Anschlag am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag, bei dem ein islamistischer Attentäter mit einem Lastkraftwagen in Nizza durch eine Menschenmenge fuhr und dabei 86 Personen ermordete und mehr als 400 zum Teil schwer verletzt hatte trug zu einem kollektiven Trauma bei. Kein Wunder, dass solche Ereignisse auch in der Neunten Kunst thematisiert werden – eher ein Wunder, dass es so spät passiert.

Das Duo Martin Quenehen und Bastian Vivès traut sich nicht ganz ohne Grund alles Mögliche zu, zuletzt etwa die Neuerfindung eines Klassikers wie Corto Maltese in »Schwarzer Ozean«.
Als ich Nationalfeiertag bekam, war er erste Eindruck eher verhalten. Die ersten Seiten kann man fast überblättern; kaum etwas zu lesen, die Zeichnungen sehr reduziert, alles in Schwarz/Weiß/Grau. Doch mit fortschreitender Lektüre manifestiert sich ein ganz komisches Gefühl, eine Ahnung, dass der oberflächliche Frieden nicht wirklich ist, dass es zu einem unheilvollen Ende kommen könnte. Wir sind hier zwar nicht bei einer der x-ten Folgen von Scream, Halloween oder Ähnlichem aus diesem Genre, aber genauso fängt Nationalfeiertag an.

Der junge Kriminalanwärter Jimmy lebt abgeschieden von der Großstadt im idyllischen französischen Dorf Saint-Jean-Le-Monestier; sein Traum ist, nicht wie sein Vater einsam und allein dort zu sterben. Der absolute Höhepunkt der Saison ist der 14. Juli, der Nationalfeiertag. Jimmys Umfeld ist geprägt von Vorurteilen: Streunende Hunde werden als Wölfe identifiziert, die abgeschossen werden müssen, auf dem Land lebende Ökos demonstrieren gegen alles und bauen Hanf an, Pariser rasen mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Landschaft, Zigeuner haben keine Hemmungen und alle Ausländer und Migranten sind potenzielle Terroristen.

Die Großstadt erreicht ihn plötzlich und unerwartet in Form des Malers Vincent, der mit seiner Tochter Lisa aus Paris kommend die Sommerferien in Saint-Jean-Le-Monestier verbringt und dort den Tod seiner Frau, die bei einem terroristischen Anschlag ums Leben kam, verarbeiten will. Eines Nachts überrascht Jimmy Vincent bei einem nächtlichen Ausflug nach Villeneuve, dem Wohnort eines der Terroristen, der seine Frau auf dem Gewissen hat – eine Migrantensiedlung – und kann ihn im letzten Augenblick vor einer großen Dummheit bewahren. Dann verschwindet Lisa, die Ereignisse kurz vor dem Nationalfeiertag überschlagen sich und ein neuer Held wird geboren.

Hört sich erst einmal einfach an, doch es gibt viele offenen Fragen (Warum fühlt sich Jimmy schuldig am Tod seines Vaters? Wer ist der Maler wirklich? Wer sind die Motorradfahrer, die nachts um das Feriendomizil herumlungern? ...), die nicht wirklich oder nur mit viel Fantasie beantwortet werden können und deshalb viel Raum für Spekulationen übriglassen.

Bastien Vivès beherrscht es wie kaum ein anderer, mit wenigen Strichen, wenigen Details und der sparsamen Kolorierung Stimmungen zu erzeugen. Als Jimmy den Maler zu einem Ausflug in die nähere Umgebung einlädt und versucht, ihm den Charme der Natur rund um Saint-Jean-Le-Monestier näherzubringen, bedarf es keiner Farben, um trotzdem die geschilderte Farbigkeit nachempfinden zu können. Das angesprochene Szenario mit Raum für vielfältige Spekulationen wird durch diesen reduzierten Zeichenstil mit wenigen Linien, wenigen Details und der dadurch erzeugten Anonymität der Charaktere unterstützt.

Man könnte sicherlich viel in Nationalfeiertag hineininterpretieren – geht es um die individuellen Geschichten der einzelnen Personen oder ist durch die Situation eine ganze Nation betroffen? Aber auch dabei helfen uns Quenehen und Vivès letztlich nicht und lassen uns manchmal ein wenig ratlos zurück.

Weit entfernt davon, Nationalfeiertag als Meisterwerk zu bezeichnen, verbleibt dennoch ein nachhaltiger Eindruck, der den Comic mehr als lesenswert macht und sei es nur darum, weil er zum Nach- und Mitdenken anregt und nicht spurlos an einem vorbeigeht.

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2023 Schreiber & Leser / Martin Quenehen, Bastien Vivès


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