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FRISCH GELESEN: Archiv
Der Fluss
Story: Alessandro Sanna
Zeichnungen: Alessandro Sanna
Peter Hammer Verlag
Hardcover | 112 Seiten | Farbe | 29,90 €
ISBN 978-3-77950496-2
Genre: Landschaft, Natur
Für Leser, die das mögen: Meditation, Entschleunigung
Ich habe keine vier Sekunden gebraucht, um dieses Buch zu lieben, aber es dauerte mehr als vier Wochen, bis ich verstand, wovon es eigentlich handelt. Dabei wirkt es auf den ersten Blick simpel.
Vier Geschichten repräsentieren vier Jahreszeiten: Es beginnt mit dem Herbst. Die Menschen bauen einen Damm, doch der erweist sich als nutzlos – irgendwann ist das Land überflutet. Im Winter fährt ein Mann durch kahle, neblige Landschaften, um seinen Sohn aus der Schule zu holen, damit er die Geburt eines Kalbes miterlebt. Im Frühling verliebt sich ein Paar und heiratet. Im Sommer bricht ein Tiger aus einem Zirkus aus und freundet sich mit einem Maler an.
Man kann diese wortlosen Geschichten, die in der italienischen Po-Ebene spielen, bequem in zehn Minuten lesen. Und hat dabei ein durchaus angenehmes Erlebnis, denn die getuschten Bilder beeindrucken bereits beim schnellen Durchblättern.
In Panorama-Panels, die in einem nur selten unterbrochenen Vierer-Grid angeordnet sind, gibt der Italiener Alessandro Sanna jeder Jahreszeit eine Farb-Persönlichkeit: Der Herbst ist lila und braun, der Winter beige, braun und weinrot, der Frühling blau, orange und grün, der Sommer gelb, grün und blau. Davor umreißen schwarze Striche knapp die Landschaft, die Büsche und Bäume, Häuser und Anhöhen. Aber auch nicht immer: Manchmal ist da einfach nur Farbe, die Licht ist oder Dunkelheit oder eine Idee von Raum, der kurz vor dem Zerfließen zu stehen scheint.
Das führt in die nächste Ebene dieses Buches, die interessante, denn mal ehrlich: Die vier Geschichten sind nicht aufregender als die Worte, die es braucht, um sie zu erzählen. Doch bei jedem Lesen oder Betrachten des Buches wird deutlicher, dass es um sie nicht geht. Mit der Zeit wuchs in mir sogar der Verdacht, dass der 39-Jährige Andersen-Preisträger die Menschen nur dabei hat, weil man das so macht, weil Geschichten angeblich von Menschen erlebt werden. Sagt das Klischee. Doch das stimmt nicht, und dieses Buch macht es ganz deutlich: Die Landschaft erlebt die Geschichte. Oder besser gesagt: ist sie.
Je häufiger man den Band durchblättert, je länger man die Bilder ansieht, umso tiefer werden sie. Es ist, als würde sich plötzlich etwas bewegen, was langsamer ist als alles, was wir normalerweise beobachten: das wabernde Licht, das wir nur im Augenwinkel wahrnehmen, die Luft, die leicht flimmert, die kahlen Äste, die im Winterwind wanken, und natürlich das Wasser, immer wieder das Wasser, das zu jeder Jahreszeit anders aussieht, vielleicht, weil es sich jedes Mal anders anfühlt, kalt oder warm, gefährlich oder einladend, Lebensspender oder –vernichter.
Nach vier Wochen habe ich ein Gefühl dafür gehabt, was in diesem Buch eigentlich passiert. Aber ich weiß: das war nur der Anfang.
Der Fluss gibt dem Leser ein Erlebnis, wie kaum eine andere grafische Erzählung, etwas lang Anhaltendes, zu dem man über die Jahre immer wieder zurückkommen kann. Nach Slow Food, Slow Travel, Slow Money und Slow Journalism ist dies wohl das erste Slow Comic. Im allerbesten Sinne nachhaltig.
[Peter Lau]
Abbildungen © 2015 Peter Hammer Verlag
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