Frisch Gelesen Folge 302: Captivant

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FRISCH GELESEN: Archiv


Captivant

Story: Yves Chaland, Luc Cornillon
Zeichnungen: Yves Chaland, Luc Cornillon

Finix Comics
Hardcover | 96 Seiten | Farbe u. s/w | 33,80 €
ISBN: 978-3-948057-34-3

Genre: Humor

Für alle, die das mögen: Nouvelle Ligne claire, Freddy Lombard, Comickurzgeschichten



Aus Sicht eines comicbegeisterten Jungen wuchs ich in der absoluten Diaspora auf. Das Einzige, was Buch- und Bahnhofshandel zu bieten hatten, waren Tim und Struppi. Und als ich mit diesen Bänden durch war, verlangte ich nach Nachschub, der sich durch den halbjährlichen Werbeflyer aus dem Carlsen Verlag im Frühjahr 1985 ankündigte. Ein Protagonist mit rötlich-blonder Tolle, dazu einen leicht vertrottelten Kumpanen und das Ganze festgehalten in klaren und atmosphärisch dichten Bildern – keine Überforderung für mich. Ich war auf Freddy Lombard von Yves Chaland (1957-1990) gestoßen. Die Begeisterung für den viel zu früh verstorbenen Künstler und die Nouvelle Ligne claire ist bis heute geblieben. Umso begeisterter habe ich die Neuerscheinung von Finix aufgenommen, die mit Captivant in Deutschland einiges an unveröffentlichtem Material des Künstlers zugänglich macht.

Damit bietet sich die einmalige Gelegenheit, Werke aus der frühen Schaffensphase Chalands zu entdecken, die er gemeinsam mit seinem Studienkollegen Luc Cornillon ersonnen hat. Das Projekt Captivant wurde zwar von beiden Comicschaffenden gemeinsam realisiert, aber Star des Duos ist eindeutig Chaland. Cornillon ist in Deutschland hauptsächlich durch seinen Band Marsmenschen greifen an! bekannt, der Mitte der 1980er Jahre bei Carlsen erschien. Der vorliegende, lang ersehnte Band vereint verschiedene in Métal Hurlant veröffentlichte Geschichten, die teilweise auch im deutschsprachigen Ableger Schwermetall zu finden waren. Es soll die Sammlung mehrerer Ausgaben eines fiktiven Magazins namens »Captivant« sein: Die meisten Geschichten sind Nachahmungen von illustrierten Magazinen aus den 1950er Jahren. Jede der Ausgaben enthält verschiedene Comicepisoden, die nur wenige Kästchen oder Seiten lang sind und von Humor bis Abenteuer reichen.

Mehr noch als in ihren späteren Arbeiten parodieren die beiden Künstler in den vorliegenden Geschichten den Stil als auch die reaktionären Inhalte frankobelgischer Comics der 1950er Jahre. Rassistische Anspielungen gegen Asiaten, Araber, Afrikaner und alle nicht-europäischen Völker sind inklusive. Aber auch Anspielungen auf amerikanische Comicstrips sind in den Geschichten enthalten – so beispielsweise in der schwarzweißen Geschichte »Eine Nacht des Grauens«, die sich deutlich an die EC-Comics anlehnt.

Die Idee der fiktiven Comiczeitschrift wird von den beiden aufstrebenden Künstlern bis ins kleinste Detail umgesetzt. So sind einige der im Album enthaltenen Geschichten in sich abgeschlossen, in anderen Fällen kennt der Leser weder den Anfang noch die Fortsetzung. Ganz so, als wenn wir einen Stapel unsortierter und nicht unbedingt aufeinander folgender Comicmagazine vorgesetzt bekämen. Spiel- oder Leserbrief-Rubriken sowie fingierte Werbung für die Albumausgaben bestimmter Helden verstärken diesen Eindruck.

Das wirklich Interessante an dem Band ist die Tatsache, dass Chaland nicht alle Geschichten in der klassischen Nouvelle Ligne claire zeichnet. Einige sind in anderen Stilen gehalten und zeigen so die ganze Bandbreite seines Könnens und seine Wandlungsfähigkeit mit dem Stift in der Hand, wie beispielsweise die Episoden »Roter Schnee« oder »So entstand das Cugnomobile«. Für einen unwissenden Betrachter kaum Chaland zuzuordnen mit ihrer diffusen und ungenauen Strichführung. Und genau darin liegt der große Reiz des Albums: in der Fülle der Stile und in der Fülle der Ideen.

Man merkt beiden Künstlern an, dass die Ideen nur so aus ihnen heraussprudelten. Dafür ist die Form der fiktiven Comiczeitschrift mit vielen Bruchstücken von Geschichten genau die richtige Wahl. Ein Gag, eine spannende Szene oder eine Idee für einen genialen Einstieg oder Schluss kann realisiert werden, ohne sich um das große Ganze eines Spannungsbogens oder einer 48-Seiten-Geschichte kümmern zu müssen.

Der Preis, den Finix Comics für den Band aufruft, ist sicherlich beachtlich. Aber dafür hält der Käufer einen bibliophilen Band in den Händen, der endlich eine große Lücke in seinem Yves-Chaland-Regal schließt. Für mich sind es satte zehn von zehn Sweeps.

[Bernd Hinrichs]

Abbildungen © 2022 Finix Comics / Yves Chaland, Luc Cornillon


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Oder beim Verlag: Finix Comics