Frisch Gelesen Folge 252: Celestia

»Mein Name ist Kind. Aber in Zukunft nennt man uns Mensch. Und noch später wieder anders, manche Namen sind noch gar nicht erfunden.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Celestia

Story: Manuele Fior
Zeichnungen: Manuele Fior

avant-verlag
Hardcover | 272 Seiten | Farbe | 29,00 €
ISBN: 978-3-96445-057-9

Genre: Lyrik

Für alle, die das mögen: Die Übertragung, Die schwebenden Liebenden, Jäger und Sammler



Irgendwas ist passiert. Die Insel Celestia, eine Stadt, die eventuell Venedig sein könnte, liegt zu einem großen Teil unter Wasser. Auch auf dem Festland ist alles nass, so als wäre eine Flut gerade erst abgelaufen. Zudem gab es eine Invasion, gegen die Burgen gebaut wurden, aber, erzählt eine Frau, »… als sie dann kamen, waren es Millionen. Haben alles überrollt, was ihnen im Weg stand und sind nie mehr umgekehrt.« Sodass sich natürlich die Frage stellt, was das Problem ist, wenn die Invasoren nie mehr umgekehrt sind – die sind dann doch weg, oder? Aber das ist nur eine von sehr vielen Fragen, die die neue Graphic Novel von Manuele Fior unbeantwortet lässt.

Celestia ist von der ersten Seite an eine Aneinanderreihung von Rätseln. Da ist Pierrot, der Gedanken lesen kann, ungern allerdings, und auf Dora trifft, die ähnlich begabt ist. Das Duo muss sich gegen eine Bande brutaler Arschlöcher verteidigen, die wie im venezianischen Karneval verkleidet sind, hat aber Verbündete in einer Gruppe junger Menschen, die ebenfalls telepathisch begabt sind. Außerdem geht es manchmal um Sex, auch da sind die Verhältnisse unklar. Auf der Flucht vor den Arschlöchern verlassen die beiden schließlich die Stadt und machen sich auf einen Roadtrip durch eine postapokalyptische, doch friedliche Landschaft, der keinerlei Schrecken anzusehen ist.


Manuele Fior ist der poetischste unter den großen Poeten des modernen europäischen Comic. Seine Geschichten schweben oft im Vagen: Da ist was, aber was genau ist unklar. In Die Übertragung, in der ebenfalls eine Dora mitspielt, die ebenfalls telepathisch begabt ist und der Dora in diesem Band ähnelt, gibt es Kontakt zu Außerirdischen oder was auch immer, ganz klar ist das nicht, aber drumherum existieren genug Anknüpfungspunkte, um die Geschichte zumindest emotional nachvollziehbar zu machen. Die fehlen in Celestia fast völlig. Der Band ist wie ein Beispiel für die häufig geäußerte, aber völlig falsche Vermutung, Poesie sei nicht verständlich und müsste es auch nicht sein.

Tatsächlich lässt sich Lyrik selten nach-denken, aber in der Regel nach-fühlen. Dafür braucht es allerdings emotionale Anker, die hier über endlose Passagen fehlen. Wir wissen nicht, was passiert ist, warum es Telepathen gibt, warum in jedem der futuristischen Gebäude, die unterwegs passiert werden, irgendwelche Leute leben, was die tun und was das soll. Einige Momente funktionieren: Wenn Pierrot und Dora einen Ort erreichen, an dem nur Kinder leben, die verstörend übererwachsen sind, wird das jeden berühren, der jemals mit Kindern zu tun hatte. Nicht selten sprechen auch die Bilder für sich.


Die Zeichnungen sind ohnehin die große Stärke des Bandes. Die in den klaren Linien der Körper und Gebäude amorph hingeworfenen Farben geben allem etwas leicht Fluides, das sich in den verschwommenen Landschaften widerspiegelt. Manches ist einfach nur schön

 

anderes überraschend detailliert

 

vieles erfrischend vage


Schwierig wird es nur, wenn Fior versucht, seine Geschichte zu erzählen. Was auch daran liegt, dass es keine nachvollziehbaren Charaktere gibt: Die Motivation der Hauptfiguren lässt sich gerade noch zusammenreimen, die anderen Figuren sind nett oder böse, ambivalent ist auch nicht selten – aber warum? Das bleibt unklar. Und auf Entwicklung ist nicht zu hoffen – die meisten Figuren scheinen innerlich recht unbeweglich. Das Buch wirkt überhaupt sehr statisch, bis es das zum Schluss plötzlich nicht mehr ist, als sich mit einem Mal alles ändert. Aber warum? Keine Ahnung.

Manchmal hatte ich das Gefühl, ich lese einen Corona-Comic. Alles ist leer, die Menschen sind weit voneinander entfernt, über allem schwebt eine vage Verlorenheit. Da ist was passiert. Und jetzt müssen wir damit leben. Könnte sein. Es könnte aber auch um irgendwas anderes gehen. Und das ist keine Qualität von Poesie. Die erschafft in den Lesenden Bilder, die sich in Worten nicht beschreiben lassen, aber trotzdem spezifisch sind – wir fühlen alle dasselbe. Zu Celestia dagegen kann sich jeder irgendwas was denken. Aber warum?

[Peter Lau]

Abbildungen © 2021 avant-verlag / Manuele Fior


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