Frisch gelesen Folge 305: Vergiss meinen Namen

»Warum bin ich der Einzige in dieser Familie, der den Mut hat zu rebellieren?«


FRISCH GELESEN: Archiv


Vergiss meinen Namen

Story: Zerocalcare
Zeichnungen: Zerocalcare

avant-verlag
Hardcover | 240 Seiten | s/w | 25,00 €
ISBN: 978-3-96445-074-6

Genre: Autobiografie, Coming-of-Age-Story

Für alle, die das mögen: die Netflix-Serie An der perforierten Linie abreißen, die Känguru-Comics, Gute Nacht, Punpun



Wer sich aktuell mit der italienischen Comicszene befasst, kommt an Zerocalcare nicht vorbei. Er gilt als der angesagteste (Comic-)Künstler Italiens, sein Blog als der meistgelesene Italiens, die Stimme der Jugend, das Enfant terrible und bestimmt vergesse ich gerade einige Superlative, die ihm sonst noch zugeschrieben werden. Fast messianische Züge scheint er zu haben: Er hat die Graphic Novel in Italien salonfähig gemacht, er ist politisch, unbeugsam, rebellisch. Das ist ganz schön viel, was da auf den Schultern dieses Zeichners lastet. Seine Anerkennung geht inzwischen weit über die Grenzen Italiens hinaus und es muss sich zeigen, ob er seinem Ruf auch auf internationaler Ebene gerecht werden kann.

Denn das Spannende an Zerocalcare, der mit bürgerlichem Namen Michele Rech heißt und 1983 in Italien geboren wurde, ist seine Authentizität. Er hat französische und italienische Wurzeln, hat aber die meiste Zeit seines Lebens in Rebibbia verbracht, einem Stadtteil Roms, der am nordöstlichen Stadtrand liegt und dominiert wird von einem großen Gefängnis. Das ist alles wichtig zu wissen, da dies auch einen Großteil seiner Erzählungen einnimmt. Zerocalcare erzählt über sich selbst. Über sein Leben, seine Ängste und Nöte. In seinem anderen bisher auf Deutsch erschienenen Buch Kobane Calling geht es um seine Erfahrungen, die er als Teil einer Soli-Gruppe gemacht hat, mit der er die syrisch-türkische Grenze bereist hat. Er erzählt klar autobiografisch, und auch wenn er Emotionen oft grafisch sehr expressionistisch darstellt, bleibt er immer nah an seiner Lebenswirklichkeit dran.


Zero und sein Gürteltier als Einheit gegen das Übel der Welt


Ein wichtiger Teil dessen ist die Sprache, die er verwendet. Er schreibt in einem sehr spezifischen römischen Jugendslang, der in anderen Teilen Italiens wohl auch nicht leicht zu verstehen ist. Allein das hat für viel Empörung in Italien gesorgt. Er gibt damit einer Generation eine Stimme, die gesellschaftlich keinen Anschluss findet und sich von der Politik verraten fühlt. In seiner Netflix-Animationsserie An der perforierten Linie abreißen wird in rasanter Geschwindigkeit in diesem Slang gesprochen. Hier bekommt man ein Gefühl dafür, wie wichtig diese Ausdrucksweise für Zerocalcares Comics ist und dass einiges in der Übersetzung verloren gehen muss.

Vergiss meinen Namen gehört zu einer Reihe Zerocalcares, in der er seine Jugend und sein Erwachsenwerden in Rebibbia erzählt. Seinen Durchbruch hatte er mit der bisher in Deutschland nicht erschienenen Prophezeiung des Gürteltiers (La profezia dell’armadillo). Dieses Tier, das auch in Vergiss meinen Namen vorkommt, ist das Unterbewusstsein und das Über-Ich des Autors. Zynisch und sarkastisch schaut es darauf herab, wie Zerocalcare sich durch sein Leben kämpft. Aus deutscher Perspektive fällt es schwer, hier nicht Anleihen an das Känguru aus den Känguru-Chroniken zu sehen und insgesamt ist der Comic angefüllt mit popkulturellen Anspielungen. Man merkt, dass Zerocalcare viele Manga in seiner Jugend gelesen, viele Videospiele gespielt und viele Filme gesehen hat.

Popkulturelle Anspielungen und Übersetzerschwierigkeiten


In Vergiss meinen Namen erzählt er die Geschichte seiner Mannwerdung und die Geschichte seiner Familie. Seine Oma hat ihm nämlich versprochen, dass sie erst sterben wird, wenn er zum Mann geworden ist. Und das Buch beginnt mit ihrem Tod. Also muss sich Zero auf eine Spurensuche begeben, er muss herausfinden, was sie damit meinte und wie das für ihn Realität werden kann. Auf dieser Reise muss er lernen, Fragen zu stellen und Antworten einzufordern, die schmerzhaft sind und deren Auflösung nicht immer zufriedenstellend oder ausreichend sind. Aber er begreift auch, dass der Prozess selbst, die Auseinandersetzung und die Gespräche Heilung und Reifung bringen. Das mag jetzt sehr schwer klingen, Zerocalcare gelingt es aber, all das mit viel Witz und Doppeldeutigkeit zu präsentieren. In Anspielung an Inio Asanos Gute Nacht, Punpun sind alle Familienmitglieder des Autors als Federvieh dargestellt. Die Mutter ist ein gluckenhaftes Huhn, die Oma ein junges Küken und der Vater eine tollpatschige Ente. In ähnlicher Weise wie bei Asano tragen diese anthropomorphen Darstellungen dazu bei, die Distanzen innerhalb einer Familie aufzuzeigen, dies aber sehr humoristisch und liebevoll.

Mit kräftigem schwarzen Strich, der seiner eigenen Darstellung mit den schwarzen Blöcken als Augenbrauen im Gesicht entspricht, zeichnet Zerocalcare seine Comics und schlägt dabei ein rasantes Tempo an. Seine Art, Gefühle und hier besonders negative, grafisch darzustellen, ohne sich in Duseleien zu ergehen, trägt viel dazu bei, dass sich die junge Generation Italiens von seinen Comics angesprochen fühlt.

 
Emotionaler Ballast in Form eines Thunfisches


Es ist beim Lesen von Vergiss meinen Namen klar zu merken, dass viel von dem Sprachwitz in der Übersetzung verloren geht, wenn z.B. mit Anmerkungen gearbeitet werden muss. Doch trotz des eng wirkenden Blickwinkels schafft es Zerocalcare, europäische Perspektiven einzunehmen, die auch außerhalb Italiens Gültigkeit besitzen und die seine Geschichte tragen.

[Mechthild Wiesner]

Abbildungen © 2022 avant-verlag / Zerocalcare


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