Frisch Gelesen Folge 110: Äthermechanik

»London roch anders. Man möge mir meine Abschweifungen verzeihen. Ein alter Soldat erträgt solche Veränderungen nur schwer.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Äthermechanik

Story: Warren Ellis
Zeichnungen: Gianluca Pagliarani

Dantes Verlag
Softcover | 48 Seiten | s/w | 9,00 €
ISBN: 978-3-946952-30-5

Genre: Krimi, Steampunk

Für alle, die das mögen: Kriminal- und Trivialliterarur, alternative Realitäten, Gedankenspiele


 

Dieser Comic lebt von Kleinigkeiten. Das fängt schon beim Titel an. Wer ihn nur überfliegt, übersieht möglicherweise ein entscheidendes Detail. Warren Ellis hat keine Graphic Novel, sondern »eine graphische Novelle« geschrieben. Länger als eine Kurzgeschichte, kürzer als ein Roman ist für diese literarische Gattung in Johann Wolfgang Goethes Verständnis eine »unerhörte Begebenheit« ausschlaggebend. In Ellis' Comicnovelle ist das ein »Mann, der nicht da war«, wie es der große Londoner Detektiv Sax Raker seinem soeben aus dem Krieg heimgekehrten Kollegen, guten Freund und Zimmergenossen Dr. Robert Watcham bei einer Tasse Tee berichtet.


Dr. Watcham kehrt Heim, Krieg liegt in der Luft.

Es ist der März 1907. Frühling liegt in der Luft, feindliche Aufklärungsflugzeuge verdunkeln den Himmel. Großbritannien befindet sich im Krieg mit Ruritanien. Und die Vormachtstellung rund um den Planeten Mars ist von amerikanischen Freibeutern bedroht. Als Watcham in der alten Heimat ankommt, hebt ein Kriegsschiff ab und gleitet an der Turmspitze des Big Ben vorbei. Wenig später liegt eine Leiche in der Gosse. Die Ermittlungen nehmen ihren Lauf, Warren Ellis zieht eine zweite Erzählebene ein und steuert munter auf eine einfallsreiche Schlusswendung zu.


Die Ermittlungen steuern auf eine einfallsreiche Schlusspointe zu.

Sax Raker, Dr. Watcham, Ruritanien? Deduktive Detektive in der Hauptstadt des Britischen Empire? Wem das reichlich vertraut vorkommt, der liegt goldrichtig und doch daneben. Äthermechanik ist mehr als eine wild zusammengeklaute Hommage mit Steampunk-Einsprengseln. Die überraschende erzählerische Auflösung all der Zitate und Verweise ist die eigentliche unerhörte Begebenheit und hebt Ellis' kleine, aber feine Kriminalgeschichte von so vielen anderen Pastiches ab.
Gianluca Pagliarani (Ignition City, Dragonero), von dem in Deutschland bislang lediglich ein Band der Sukkubus-Reihe (Splitter) vorliegt, bringt die kurzweilige, zwischendurch arg dialoglastige und dadurch visuell eingeschränkte Geschichte mit prägnantem, scharfem Strich und in streng symmetrischer Seitenarchitektur zu Papier. Detailversessene Interieurs und prächtige Außenansichten lassen das Empire eindrucksvoll wieder auferstehen. Eine ansprechende Ästhetik für einen Comic zwischen Pulp und Pointe.


Mitunter dialoglastig: Gespräche bei einer Tasse Tee und einer Pfeife voll Tabak.

Äthermechanik ist Teil eines kurzlebigen Gedankenspiels. »Vor Jahren habe ich mich hingesetzt und mir überlegt, wie Abenteuercomics heute aussehen würden, wenn es keine Superheldencomics gegeben hätte«, erklärte Warren Ellis 2005 die Ursprungsidee hinter seinem für Avatar Press aus der Taufe gehobenen Imprint Apparat. Beim Sitzen und Nachdenken kamen diverse Auftakte für potenzielle Comicserien heraus, die freilich nie in Serie gingen. Die vier Oneshots Frank Ironwine, Quit City, Simon Spector und Angel Stomp Future – jeder in einem anderen Genre angesiedelt – machten 2004 den Anfang. Später kamen neben Äthermechanik (2008) Crécy (2007) und Frankenstein's Womb (2009) hinzu.
Der noch junge Dantes Verlag hat die kleinen Perlen nun für den deutschen Markt gehoben. Auf Äthermechanik folgt in Bälde Apparat – Vier Singles, der die ersten vier Oneshots umfasst, im August Crécy und im Oktober Frankensteins Schoß.

Für die einen mag das eine reine Fingerübung sein, eine überflüssige, weil unvollendete Spielerei – zumal Warren Ellis seine andernorts gezeigte zügellose Fabulierlust der Stringenz und Kohärenz der Story zuliebe deutlich im Zaum hält. Und dennoch bieten Äthermechanik & Co. allen anderen eine willkommene Abwechslung zum ewigen Superheldengedöns. Schön, dass ein Szenarist wie Ellis, der den Bärenanteil seiner Brötchen weiterhin mit Capeträgern verdient, nebenbei die Zeit dafür findet.

[Falk Straub]

Abbildungen © 2019 DantesVerlag


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