Frisch Gelesen Folge 157: Eine Studie in Smaragdgrün

»Mein Bester, ich werde Sie nicht als ›Henry Chamberley‹ anreden, denn diesen Namen zu führen haben Sie keinerlei Berechtigung.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Eine Studie in Smaragdgrün

Story: Neil Gaiman
Adaption der Story: Rafael Albuquerque, Rafael Scavone
Zeichnungen: Rafael Albuquerque

Dantes Verlag
Hardcover | 92 Seiten | Farbe | 22,00 €
ISBN: 978-3-946952-45-9

Genre: Detektivgeschichten, Fantasy, Horror, Mystik

Für alle, die das mögen: Sandman, American Gods, Providence, Sherlock Holmes


Es hat nicht nur Vorteile, den Kommentar vor der eigentlichen Lektüre zu lesen. Ich habe mit dem Kommentar von Anne M. Pillsworth angefangen und war etwas verwirrt. Was soll denn wohl ein schmackhaftes Püree aus Conan Doyle und Lovecraft sein? Wer Neil Gaiman kennt, erwartet sicherlich keine klassische Sherlock-Holmes-Geschichte, aber was kann dieser Comic mit dem Mythos der Großen Alten zu tun haben? Meine Verwirrung hat dann noch zugenommen, als ich die Dame gegoogelt und ihr Bild mit einer Statue von Cthulhu gesehen habe. Cthulhu? – aber darauf komme ich dann später zurück.


Am Tatort: Der Auftakt könnte aus einer klassischen Sherlock-Holmes-Geschichte stammen.

Beim Lesen des Comic fängt die Geschichte dann doch in etwa so an, wie von einer Sherlock-Holmes-Erzählung zu erwarten, wenn man das Offensichtliche nicht weiter hinterfragt (außer man hat das Nachwort schon gelesen und achtet die ganze Zeit auf bestimmte Hinweise). Ein beratender Detektiv, der in der Baker Street wohnt, und der ehemalige Armee-Colonel S. M. werden unter der Maßgabe höchster Verschwiegenheit von Inspektor Lestrade nach Shoreditch an den Tatort eines Verbrechens gebeten. Franz Drago von Böhmen, zu Gast bei ihrer Majestät Victoria in Albion, offensichtlich kein Mensch, sondern ein Halbblutwesen, ist ermordet worden. Mit seiner grünen Körperflüssigkeit hat jemand das Wort Rache an die Wand geschrieben. Die Königin – ein Monster von ausgesprochener Hässlichkeit mit tintenfischartigen Tentakeln – höchstpersönlich beauftragt die beiden, die Mörder zu finden. Bei ihren Nachforschungen stoßen sie auf den Schauspieler und Restaurationisten Sherry Vernet, der sich auch Sigerson nennt, und einen ehemaligen Militärarzt mit Namen John oder James Watson. Beide gehören zu einer anarchistischen Vereinigung, die glauben, die Rückkehr der Alten sei keine gute Sache gewesen, und wollen dahin zurück, wo die Menschheit ihr Schicksal selbst bestimmt. Ohne Umschweife gestehen sie den Mord, aber verschwinden spurlos.


Zeichen an der Wand: Grüne Körperflüssigkeit formt das Wort Rache.

Bei Eine Studie in Smaragdgrün handelt es sich um eine Pastiche-Erzählung aus dem Sherlock-Holmes-Universum, quasi eine Art der Parodie, die der Vorlage die Ehre erweist, ohne satirisch, komisch oder polemisch zu sein. Letztlich handelt es sich bei den offensichtlichen Holmes und Watson wohl um Sherlocks Erzfeind Moriarty und dessen wichtigsten Gefolgsmann Sebastian Moran, die anarchistischen Mörder, die für die Rückkehr der alten Weltordnung eintreten, sind die wirklichen Detektive.

Die Geschichte ist eng mit dem eingangs erwähnten Cthulhu-Mythos von H. P. Lovecraft verbunden, der auf dem fiktiven Buch Necronomicon basiert. Es würde jetzt wahrscheinlich ein wenig zu weit führen, näher darauf einzugehen; wer interessiert ist, sollte einen Blick in Die Bibliothek des Schreckens von Lovecraft werfen. Viele Elemente des Schauspiels von Sherry Vernet tauchen darin auf und werden so vielleicht etwas nachvollziehbarer. Und wer sich dann endgültig mit der Materie infiziert hat, kommt nicht umhin, Alan Moores Providence zu lesen, in der dieser sich intensiv und auf die ihm eigene Art und Weise mit dem Lovecraft-Mythos und der okkulten Geschichte Neuenglands auseinandersetzt.


Arthur Conan Doyle trifft H. P. Lovecraft: Die Königin als Monster.

Eine Studie in Smaragdgrün erschien erstmals 2003 in einem Pastiche-Sammelband namens Schatten über Baker Street, nicht als Comic, sondern als Erzählung, und neben weiteren Veröffentlichungen ist sie auch als englischsprachiges PDF auf Gaimans Internetseite nachzulesen. Die PDF-Datei ist wie ein Zeitungsartikel des 19. Jahrhunderts aufgemacht, die Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln im Comic weisen darauf hin. Ergänzt wird die Geschichte in dieser schönen Ausgabe des Dantes Verlags um ein Glossar (z. T. sind die ausführlichen Erläuterungen aber nicht minder verwirrend wie der einleitende Kommentar und hinterlassen das eine oder andere Fragezeichen) und ein Sketchbook.

Für die Neunte Kunst adaptiert haben sie der Eisner-Award-Gewinner Rafael Albuquerque (American Vampire) und der Brasilianer Rafael Scavone (All Star Batman) in einem zeitgenössischen, fast malerischen Stil mit düsteren Farben des Amerikaners Dave Stewart (Hellboy). Wer sich darauf einlässt, wird von dieser Mixtur in ihren Bann gezogen und fühlt sich in das viktorianische Zeitalter zurückversetzt.

 
Anschauliches Bonusmaterial: eine Seite aus dem Skizzenbuch.

Neil Gaiman ist ein Ausnahmekünstler und wer seine Geschichte nicht nur oberflächlich durchblättert, wird nicht umhinkommen, immer weiter und tiefer zu graben und sich mit
H. P. Lovecraft, dem Necronomicon, Cthulhu und Alan Moore (wer macht das nicht sowieso?) zu beschäftigen. Mit zunehmender Erkenntnis wird aus der anfänglichen Verwirrung immer mehr ein interessantes, spannendes und nachvollziehbares Lesevergnügen. Letztlich entpuppt sich daraus ein kleines Meisterwerk auf 80 Seiten.

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2020 DantesVerlag


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