»Halt Bruder! Tu's nicht! Töte Dich nich' selbst, mach's ihn' nich' so leicht.«
FRISCH GELESEN: Archiv
2020 Visions Band 1: »Lebensgier & La Tormenta«
Story: Jamie Delano
Zeichnungen: Frank Quitely, Warren Pleece
Dantes Verlag
Hardcover | 156 Seiten | Farbe | 22,00 €
ISBN: 978-3-946952-60-2
Genre: Science Fiction, Drama
Für alle, die das mögen: Outbreak mit Dustin Hoffman, Jens Spahn, Mœbius, das Klonschaf Dolly
Einen Blick in die Zukunft zu werfen, ist immer ein zweischneidiges Schwert. Das kann in der gleichzeitigen Verherrlichung und Verspottung des Autors wie z. B. bei Nostradamus enden oder zu einem Klassiker der Weltliteratur werden. Letzteres ist wohl unbestritten George Orwells 1984, in dem schon 1949, also 35 Jahre vor der Handlung des Romans ein totalitärer Überwachungsstaat beschrieben wird. 2020 Visions wird nun damit beworben, dass dieser Comic aus dem Jahr 1997 nichts anderes als das Pendant zu Orwells Jahrhundertwerk für die Neunte Kunst sei. Um einer solchen Hypothek gerecht werden zu können, darf man wohl ein kleines Meisterwerk erwarten.
Blick in die Zukunft: Der Times Square 2020
Jamie Delano, der die ersten Geschichten von Hellblazer geschrieben hat, sich schon bei Animal Man (Vertigo) rückblickend visionär verwirklicht hat und dabei den ökologischen und kulturellen Kollaps vorausgesagt hat, legt seine Visionen 2020 in vier abgeschlossenen (?) Erzählungen vor, von denen »Lebensgier« und »La Tormenta« in Band 1 zusammengefasst sind.
Genau so verschieden wie die Zeichner der beiden Geschichten sind, Frank Quitely und Warren Pleece, so unterschiedlich sind Rahmen und Handlungen, einzige Klammer ist der Zeitpunkt des Geschehens, das Jahr 2020.
Die Isolierung Infizierter
In »Lebensgier« wird das Leben rund um Manhattan in der Zukunft beschrieben, doch anders als in Batmans Niemandsland ist die Mauer um die Stadt – den Archipel – zum Schutz der darin Lebenden errichtet worden. Alex Woycheck (die Ähnlichkeit mit Georg Büchners Woyzeck ist wohl eher zufälliger Natur), ein in die Jahre gekommener Pornograf, versucht mehr schlecht als recht als Verkäufer illegaler Porno-Klassiker in der intellektuell feministischen Präsidentendynastie zu überleben. Erschreckend visionär leben die Menschen in Manhattan mit der Angst, mit einem Virus infiziert und dann ohne weitere Hilfe zum Paria der isolierten außerstädtischen Bezirke zu werden. Als Woycheck – selbst infiziert – seine ehemalige Geliebte Zandra van Valken ansteckt und damit zum Tode verurteilt, hat er nur noch eins im Sinn: Rache und Chaos über die Bewohner innerhalb der Mauer und damit über das gehasste Establishment zu bringen.
Claudes Paradiso Electronico bietet virtuellen Sex
In »La Tormenta« spielt die androgyne Jack Atlanta die Hauptrolle. Jack ist Privatdetektivin und macht sich aufgrund chronischen Geldmangels – hervorgerufen durch hemmungslosen und kostspieligen illegalen Online-Sex – auf die Suche nach der Schwester eines ihrer Gläubiger: Colette. Das junge Mädchen, das von ihrem Bruder für pornografische Fotos missbraucht wurde, hatte sich Hals über Kopf in den attraktiven Schlepper Raul verliebt und sich von ihm schwängern lassen. Aber Raul ist nur ein kleines Rädchen in einem »Billig-Baby-Beschaffungs-Business«, das aufgrund der zunehmenden Unfruchtbarkeit der Männerwelt blüht. Als Jack ihm auf die Schliche kommt, erweist sich diese Spur auch in anderer Beziehung als äußerst fruchtbar. El Escultor, ein durchgeknallter »chirurgischer Künstler«, verwandelt Bürger in Monster und lässt sie dann laufen. Die offenen Fäden laufen in der Bar El Jalapeno von Señora Resnick zusammen, doch als Jack die Zusammenhänge erkennt, ist es beinahe zu spät.
El Escultor hat zugeschlagen
Aber wie visionär war Delano wirklich mit diesen Geschichten? Das Gender-Thema um die Detektivin Jack war 1996 meiner Erinnerung nach eher noch völlig unterrepräsentiert – Devine oder Grace Jones waren da wohl eher Vorboten und extravagante Ausnahmen. 1996 ist allerdings mit Dolly das erste geklonte Schaf in Schottland zur Welt gekommen. Extrapolationen für eine Zukunft mit weitreichend männlicher Unfruchtbarkeit und möglichen – daraus resultierenden – Auswüchsen, scheinen auch nicht so weit hergeholt.
Anders sieht es da natürlich mit der Geschichte »Lebensgier« aus. Eine globale Infektion und die möglichen Folgen entbehren nicht einer erschreckenden Aktualität. Ist das der eigentliche Grund, warum 2020 Visions gerade jetzt veröffentlicht wird? Auch die Absonderung infizierter Personen wurde schon 1987 vom CSU-Politiker Peter Gauweiler vorgeschlagen. Klar, hinterher und über zwanzig Jahre später ist jeder viel schlauer, Delano hat es auf jeden Fall schon 1997 verstanden, futuristisch erscheinende Singularitäten in eine entfernte Zukunft zu projizieren und zu verallgemeinern.
Das Ganze hat allerdings nicht im Entferntesten das Niveau eines George Orwell. In Farm der Tiere (1945), in dem der bekennende Sozialist das Scheitern der Russischen Revolution und den Verrat der sozialistischen Ideale durch den Stalinismus beschreibt und in 1984, in dem das Schreckensbild eines totalitären Überwachungsstaates nach Muster der Sowjetunion gezeichnet wird, verarbeitet Orwell eigene Erfahrungen und Überzeugungen und entwickelt daraus seine düsteren Zukunftsvisionen – das hat dann doch eine ganz andere Qualität. Insofern ist 2020 Visions wohl eher ein finsteres Zurück in die Zukunft.
Zandra van Valken ist über ihre Infizierung »not amused«
Während Frank Quitely mit seinen Zeichnungen, die manchmal ganz entfernt an John Difool von Mœbius erinnern, zu überzeugen weiß, ist der etwas ungelenke und sehr düstere Stil von Warren Pleece gewöhnungsbedürftig, vielleicht auch ein Grund, warum bisher kaum etwas auf Deutsch von ihm vorliegt.
Wie schon bei Eine Studie in Smaragdgrün, die ebenfalls von Jens R. Nielsen übersetzt wurde, gibt es auch bei 2020 Visions mehrseitige Anmerkungen mit Erläuterungen und Übersetzungshilfen – vorbildlich, aber besser erst beim zweiten Lesen nachschlagen, sonst verdirbt man sich ein wenig das Lesevergnügen.
Ach ja, 1997 konnte Delano tatsächlich nicht wissen, dass es ab dem 11. September 2001 kein World Trade Center mehr geben würde – soweit hat die visionäre Gabe dann doch nicht gereicht.
Kein neuer George Orwell, aber immerhin eine geschickte und gelungene Extrapolation in die Zukunft – mit zum Teil erschreckender Aktualität.
[Stephan Schunck]
Abbildungen © 2020 DantesVerlag
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