»Ich beneidete meinen Freund Norbert wegen seiner Gummischuhe! So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen! Das waren richtige Kindersärge, und ganz aus einem Stück gegossen, mit allen Details – Nähte, kleine Zierlöcher, Ösen, hübsch gebundene Schnürsenkel, alles aus Gummi! Und unglaublich weich! (…) Solche Schuhe sind mir später nie mehr begegnet.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Ich René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B,
Band 3: »Nach dem Krieg«
Story: Jacques Tardi
Zeichnungen: Jacques Tardi
Edition Moderne
Hardcover | 160 Seiten | Farbe | 32,00 €
ISBN: 978-3-03731-189-9
Genre: Biografie
Für alle, die das mögen: Jacques Tardi, Biografien, wenig Aufregung
»Nach dem Krieg« ist der letzte Band der Trilogie Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B, in der Jacques Tardi von der Militärzeit seines Vaters erzählt. Der erste Band spielt größtenteils in dem titelgebenden Kriegsgefangenenlager in Polen, in dem René Tardi 1940 landete und die gesamte Kriegszeit verbrachte. Für alle, die je einen der unzähligen Kriegsgefangenenlagerfilme gesehen haben, ist es ein unspektakulärer Band, zumal der obligatorische Ausbruch, der in Hollywood zum Genre gehört, nicht stattfindet – die Realität ist eben dröge. Meistens jedenfalls.
Für den zweiten Band der Trilogie gilt das allerdings nicht. Als Anfang 1945 absehbar ist, dass die Russen demnächst vorm Stalag-Tor stehen, machen sich die Wachtruppen mit ihren Gefangenen auf den Weg ins vermeintlich sichere Deutschland. Doch das Reich befindet sich in Auflösung: Überall drängen die Alliierten vor, niemand überblickt noch die Lage, eine Staatsgewalt im engeren Sinn gibt es nicht mehr. So irrt die Gruppe mehr als zwei Monate zwischen Schwerin und Celle umher – bis zum bitteren Ende: Die Gefangenen knüpfen ihre Wärter auf und gehen nach Hause. Ein düsterer, äußerst beeindruckender Band, der das Chaos der letzten Monate des Nazireichs fühlbar macht.
Ein Dialog mit dem Vater, der jederzeit die Richtung wechseln kann.
So geht es von einem vermutlich traumatischen Erlebnis über die große Politik …
Am Schluss des zweiten Bandes ist René Tardi wieder in Frankreich, was ein prima Ende wäre, aber leider ist es eine Trilogie, und so erzählt Jacques Tardi nun im dritten Band von den Jahren nach dem Krieg bis 1953, als sein Vater endlich die Armee verlässt. Wie in den vorherigen Büchern führt er auch diesmal einen Dialog mit seinem Vater, der wie ein echtes Gespräch funktioniert. Das ist schön zu lesen, auch wenn die einzelnen Episoden nicht immer interessant sind. Hinzu kommt, dass Tardi über die Jahre ein sagenhaftes Händchen dafür entwickelt hat, detaillierten Realismus und surreale Verzerrungen zu Bildern zu verschmelzen, die auf eine bizarre Art beides sind: ganz nah an der Wirklichkeit und wie aus einem Traum geschnitten. Das funktioniert bei der Weltpolitik und den Kriegsgeschichten sehr gut, lässt allerdings im hinteren Drittel deutlich nach, wenn es um den Nachkriegsalltag geht.
…weiter zu einer kleinen Episode aus dem Krieg und im Anschluss nahtlos…
Überhaupt ist die zweite Hälfte recht schwach. Nachdem die Tiefen und Untiefen des Krieges und der folgenden Politik von Vater und Sohn bissig kommentiert wurden, zieht die Familie nach Deutschland, wo René zum Besatzungssoldaten wird. Der französische Blick auf die Nachkriegsdeutschen ist nicht uninteressant, allerdings wenig überraschend. Dann muss Mama aus gesundheitlichen Gründen nach Paris, Papa kann sich alleine nicht um den am 30. August 1946 geborenen Jacques kümmern, und so zieht der Sprössling alleine zu Oma. Was für das Buch heißt: Der Dialog wird zum Monolog. Und der ist, ich kann es leider nicht anders sagen: zäh.
… ins Nachkriegsfrankreich. Das könnte verwirren, doch die Übergänge wirken natürlich.
Diese Art des Erzählens ist eine der großen Qualitäten des Bandes.
Wer wissen möchte, was Jacques Tardis Oma über Gott und die Welt dachte, welche Comics dieser grandiose Künstler als Kind gelesen hat (keine guten) und wie überhaupt das Leben in einer französischen Kleinstadt Anfang der Fünfzigerjahre aussah, wird begeistert sein. Alle anderen, also zum Beispiel ich, werden sich durch die Seiten schleppen, sich ab und zu über Details wie mittlerweile wohl längst zugeschüttete Kanäle oder seltsame Gummischuhe (siehe das Zitat oben) freuen, aber die meiste Zeit denken: Wann ist das endlich zu Ende?
Na ja, irgendwann ist es dann zu Ende. Es könnte auch noch 500 Seiten weitergehen, und das zeigt leider das ganze Problem: Jacques Tardi wollte einen Zeitraum erzählen statt einer Geschichte – und das war dramaturgisch keine gute Idee, denn die Story ist eigentlich lange vor dem Zeitraum beendet. Die Fans wird das nicht stören, zumal der Band selbstverständlich fantastisch aussieht. Aber wer noch kein Bewunderer ist, ist mit anderen Werken Tardis besser bedient.
[Peter Lau]
Abbildungen © 2019 Edition Moderne
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