Frisch Gelesen Folge 346: Menschen vertrauen

»Ich bin John. Seit 35 Jahren trocken. Man kann zwar dem Schnaps abschwören, aber die Schmerzen, die man damit betäuben wollte, bleiben.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Menschen vertrauen

Story: Tommi Parrish
Zeichnungen: Tommi Parrish

Edition Moderne
Hardcover | 208 Seiten | Farbe | 29,00 €
ISBN 978-3-03731-249-0

Genre: Drama

Für alle, die das mögen: Hort (Marijpol), Bei mir zuhause (Paulina Stulin), Grenzüberschreitungen



Das Zitat oben sind die ersten Sätze dieses Buches. Sie fallen während der Sitzung einer Selbsthilfegruppe, und es folgen weitere, ähnlich intensive Monologe. Damit ist sofort klar, worum es geht: Gefühle. Echte, tiefe, schwere Gefühle. Kein Kitsch, keine Klischees und schon gar nicht Ironie. Was übrigens nicht bedeutet, dass das Buch humorfrei ist – aber Ironie und komplexe Gefühle gehen nun mal nicht zusammen. Für mich hat das Menschen vertrauen zu einem wunderbar eindringlichen Trip gemacht, der mich sehr berührt hat. Aber das wird nicht allen gefallen. Wenn du einfach gute Unterhaltung suchst, nach Feierabend und nicht zu fordernd, brauchst du wahrscheinlich gerade ein anderes Buch – vergiss das hier!

Ja, Klarheit, auch so ein Thema von Tommi Parrishs zweitem Buch. Die Protagonistinnen kämpfen die ganze Zeit darum, jede für sich und manchmal auch gemeinsam. Eliza ist damit schon recht weit, obwohl oder weil sie ein schweres Leben führt: Die alleinerziehende Mutter arbeitet als Verkäuferin und versucht daneben, sich auf Veranstaltungen als Spoken Word Performerin zu etablieren. An einem dieser Abende trifft sie Sasha, die bei ihren Eltern wohnt und, wie sich später herausstellt, von Sexarbeit lebt. Einige Zeit sieht es so aus, als könnten die beiden Freundinnen werden, vielleicht sogar ein Paar, aber dafür braucht es leider mehr als guten Willen und echten Bedarf.

Tommi Parrish stammt aus Melbourne, Australiens kultureller und alternativer Hauptstadt. Ich war nur einmal dort, vor 30 Jahren, erinnere mich aber immer noch an ein Regal in einem Buchladen mit dem Titel Sex positive. Das hat mich sehr beeindruckt, weil Deutschland damals viel verklemmter war als heute – Sex galt selbst unter progressiven Menschen vor allem als Problemfeld. Parrish lebt mittlerweile in Massachusetts, aber dieses Buch erinnert mich an die für mich damals verblüffend positive Perspektive. Wobei Parrish keineswegs Probleme ignoriert, im Gegenteil: Die Protagonistinnen offenbaren nach und nach Lagen der Unsicherheit, Unklarheit und Unabsehbarkeit, bis sich tiefe, dunkle Untiefen auftun. Wobei aber immer klar bleibt: Dieses Öffnen ist Teil eines unersetzlichen Prozesses, der das Leben voranbringt. Die Menschen sprechen miteinander, sie sprechen mit sich, sie hören zu – und danach sind sie weiter.

 

Parrishs erstes Buch The Lie and How We Told It war ähnlich eindringlich, aber deutlich experimenteller: Es ging ebenfalls um Menschen, die versuchen mit komplexen Gefühlen klarzukommen, während parallel in Schwarzweiß ein weiteres Buch erzählt wurde. Der Band erhielt den Lambda Literary Award für die beste LGBTQ Graphic Novel, vollkommen zurecht einerseits, obwohl andererseits das LGBTQ-Label viel zu viel Nische signalisiert. Ja, viele Figuren in diesen Büchern sind queere Menschen. Und? Es geht um neue Lebensmodelle und Gefühle, Ökonomie und Individualität, Offenheit, besseren Umgang mit sich selbst und anderen – geht das nicht alle an? Vielleicht sind einige LGBTQ-Menschen in einigen dieser Punkte weiter als die cis-Mehrheit – aber spricht das nicht eher für die Allgemeingültigkeit dieser Bücher?

So schief, wie sich die Menschen in Tommi Parrishs Geschichten fühlen und oft auch in der Welt sitzen, so schief sehen sie aus. Große Körper, kleine Köpfe. Gewöhnungsbedürftig, ich brauchte beim ersten Buch ein paar Seiten, bis ich begriff, dass das wirklich so gemeint ist. Jetzt mag ich es. Detaillierte Hintergründe, volle Bilder, alles sehr präzise und zugleich gar nicht technisch, eher weich, als wären die Dinge ebenfalls von leisen Gefühlen durchströmt. Parrish malt auch, und die Bilder scheinen mir ein klein wenig unschärfer, etwas weicher, aber genauso gedrängt. In diesem Buch gibt es nur wenige einseitige Bilder, aber gerade weil der Rest so voll ist, vermitteln sie ein großes, schönes Gefühl von Raum.

Tommi Parrish ist eine Transperson, die im englischsprachigen Raum mit »they« bezeichnet wird. Ich habe das in diesem Text vermieden, weil ich die Allgemeingültigkeit dieser Bücher mag: Es geht nicht um Menschen mit bestimmten Pronomen – es geht um Menschen. In einer britischen Tageszeitung wurde Parrish so zitiert: »I think of it as trying to work out how to cultivate a type of intimacy that doesn’t have a roadmap, and everyone is just feeling around in the dark trying to work out how to do it.« Das brauchen wir. Nicht alle, nicht jeder und jede und jedes dazwischen, davor, dahinter oder darüber, aber wir alle, die wir versuchen ans Licht zu kommen aus der Dunkelheit der Gewohnheiten, Traditionen und Ängste. Wenn du weißt, wovon ich spreche, ist dieses Buch für dich.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2023 Edition Moderne / Tommi Parrish


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