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Frisch Gelesen Folge 398: Auf schwankendem Boden

»Ziemlich abenteuerlich soll das gewesen sein.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Auf schwankendem Boden

Story: Kerstin Wichmann
Zeichnungen: Kerstin Wichmann

Edition Moderne
Softcover | 168 Seiten | Farbe | 28,00 Euro
ISBN: 978-3-03731-257-5

Genre: Autofiktion, Erinnerung

Für alle, die das mögen: Irmina, Columbusstraße



Was liegt in der eigenen Vergangenheit? Dieser Frage geht Kerstin Wichmann mit ihrem Debüt Auf schwankendem Boden nach. Wobei sich nie auflöst, was Fakt und was Fiktion auf diesen 168 Seiten sein soll. Feststeht, dass sich mit diesem Ansatz aber alle wichtigen Begriffe im Pressetext unterbringen lassen, die es für Lob im Feuilleton braucht: Identität, Rollenbilder, Erinnerungskultur und Geschichte. Nur gibt dieses bildungsbürgerliche Quartett fürs gute Gewissen eine Auszeichnung für einen guten Comic her?

Wer sich an den Schlagworten stört, sollte den Comic einfach mittendrin aufschlagen und sich von der Atmosphäre einfangen lassen. Wichmann zeichnet zurückgezogene, flüchtige Bilder in einem unauffälligen Layout. Weder Räume noch Gebäude oder Personen werden greifbar. Der Einsatz von Aquarell unterstützt diese Flüchtigkeit. Es ist der Blick auf Erinnerungen, wie sie sich vor unseren Augen nie rekonstruieren lassen, wie sie stets nur Nachbilder der Realität sind.

Mit diesen Mitteln bewegt sich die Erzählstimme in die Vergangenheit, erzählt vom Großvater und vom Urgroßvater, um am Ende zu bemerken, dass es über die Frauen der Familie kaum historisches Material gibt. Dem Rückzug ins Private stellt Wichmann jedoch genug einordnende geschichtliche Momente entgegen – nur unbequem wird es dabei nicht. Kurz vor Mitte des 20. Jahrhunderts, ja, da passierten offenbar schlimme Dinge, aber Auf schwankendem Boden erzählt eben nur aus dem Kleinen, aus begrenztem Material. Die Erzählung huscht hier naiv über das Schicksal des Großvaters hinweg. Vielleicht auch, weil Wichmann sich an ihrem Titel entlanghangelt. Es geht ums Schwimmen, um Schiffe und Boote, um Ungewissheiten unter den eigenen Füßen.

Mit etwas mehr Abstand findet die Erzählstimme für den Urgroßvater im Ersten Weltkrieg weit mehr Zeit und Raum. Aber auch hier: »Seine Rolle im Krieg oder in der Matrosengemeinschaft kenne ich nicht.« Wieder die Ungewissheit, das, was sich nicht finden lässt. Aber warum dann nicht Dingen mehr Raum geben, zu denen es mehr Gewissheit gibt? Historischen Fakten? Weil Auf schwankendem Boden dieser Innensicht auf die eigene Vergangenheit nachgehen will. Es geht ums Nachdenken, darum, den schwankenden Boden unter den eigenen Füßen zu spüren.

Wichmanns Comic fällt selbst noch im anspruchsvollen Programm der Edition Moderne auf, weil er so leise, so unaufgeregt daherkommt. Entsprechend gehört der Stil der Hamburger Illustratorin zu den eigensinnigsten und interessantesten Ansätzen derzeit. Es wäre fantastisch, wenn sich mit diesen Bildern noch tiefer hinauswagen lässt, dorthin, wo es nur noch das Unbekannte um uns gibt, wo sich an keiner eigenen Geschichte, keinen Erinnerungen festhalten lässt. Wichmanns Debüt ist ein Versprechen für die Zukunft. Und schon heute ein beeindruckender wie ungewöhnlicher Comic.

[Björn Bischoff]


Abbildungen © 2024 Edition Moderne / Kerstin Wichmann

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