»Der Louis ist jetzt haram, stell dir vor.«
»Wenn’s ihm besser schmeckt.«
»Nicht isst. Er ist haram, sagt die Rocky.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Freibad
Text: Paulina Stulin (nach einem Drehbuch von Doris Dörrie, Karin Kaçi und Madeleine Fricke)
Zeichnungen: Paulina Stulin
Jaja Verlag
Hardcover | 296 Seiten | Farbe | 29,00 €
ISBN 978-3-948904-38-8
Genre: Sommerkomödie
Für alle, die das mögen: Rein in die Fluten! (Reprodukt), Bei mir zuhause (Jaja), Rosalie Blum (Reprodukt)
Es ist Sommer …
… und die Lage im Frauenfreibad ist unübersichtlich. Bei 35 Grad treffen dort auf der Wiese, im Pool und dazwischen unter anderem aufeinander:
- Eva, die vor langer Zeit mal ein Schlagerstar war und eine Streiterin für den Feminismus, inzwischen aber nur noch gegen das Alter und für ihr einst progressives Weltbild kämpft,
- ihre Freundin Gabi, deren Ehemann und Wohlstandsgarant Lothar nie daheim ist, sodass ihr für ihre Gefühle nur ihr Hund Louis und als Zuhause nur das Freibad bleiben,
- die Studentin Paula, die im Burkini schwimmt, weil sie sich das so ausgesucht hat, denn das, verdammt noch mal, ist ihre Freiheit,
- ihre säkulare Mutter, die ebenfalls die Freiheit genießt, seit ihr Mann weg ist, aber den Burkini hasst, denn dafür hat sie ihre Tochter nicht aufgezogen,
- einige ihrer Verwandten, alles Frauen mittleren Alters, die zu Besuch aus der Türkei sind und Deutschland zu heiß finden, von zurückgeblieben ganz zu schweigen,
- eine Kommilitonin von Paula, die in sie verknallt ist und ansonsten so ultrawoke, dass sie niemals einen Boykott erwägen würde – aber einen Girlkott,
- Steffi, die energische Bademeisterin, die nach der Schicht erst mal eine Pille braucht,
- Kim, ein echtes Herzchen, die den Imbiss betreibt und früher mal ein Mann war,
- die pragmatische Besitzerin Rocky, die ihr Leben wohl ebenfalls als Mann gestartet hat …
… und dann rollt auch noch eine ganze Ladung Muslima in Burkas an.
Es ist eine wunderbare Ansammlung von Protagonistinnen, die die Regisseurin Doris Dörrie und die beiden Drehbuchautorinnen Karin Kaçi und Madeleine Fricke in dem gleichnamigen Film auffahren, der im September ins Kino kommt und auf dem diese Graphic Novel basiert. Selbstverständlich kriegen sich die Frauen in die Haare. Auf kleinstem Raum treten hier alle Fraktionen an, die sich auch im echten Leben bei jedem Scheiß beharken: die Progressiven und die Konservativen, die Jungen und die Alten, die Gläubigen und die Ungläubigen, die Frauen und diejenigen, die sagen: »Frau ist, wer sich als Frau fühlt.«
Die Themen sind absehbar: Tradition vs. Toleranz, Regeln vs. Freiheit, Individualismus vs. Gemeinschaft. Klar kommt da der deutsche-Komödien-Verdacht auf: ein weiterer unfassbar dröger Haufen halbinteressanter Ideen werden so lange in dürren Dialogen gewälzt, bis sie ausgewogen zu Tode gequatscht sind – und die Zuschauenden gleich mit. Aber gemach, Gevatter Tod! Mag sein, dass die Dialoge im Film von überambitionierten Schauspielerinnen auf den Altären ihrer Ausdruckskunst geschlachtet werden. Gelesen sind sie jedoch wunderbar trocken, in den besten Momenten erinnern sie sogar an Screwball Comedys:
»Ich lebe auch noch in diesem Land.«
»Betonung auf auch.«
»Oder noch.«
Es gibt sogar ein wenig Slapstick …
… und eine große Kampfszene:
Okay, es ist nicht wirklich Marvel, aber erinnert euch die Frau im grauen Burkini nicht auch ein wenig an Moon Knight? Und es mangelt wahrlich nicht an überraschenden Wendungen:
»Mir sin’ Flüchtling’ aus d’r Schwyz. Sied dem Burkaverbot chönne mir do nedo mol mehr über die Straße laufe. Aber hier simmer frei.«
»Redest du mit der Arabisch?«
»Die kommen aus der Schweiz und ich bin Schuld.«
»Wieso denn du?«
»Ich hab auch fürs Burkaverbot gestimmt.«
Zu einem Comic verarbeitet hat das Paulina Stulin, deren Meisterwerk Bei mir zuhause wohl noch in 300 Jahren gelesen werden wird, zumindest von Historikern, denn niemand in Deutschland hat jemals so präzise und ausführlich den Alltag dargestellt wie die Künstlerin aus Darmstadt, die übrigens, wie wir aus Bei mir zuhause wissen, alles auf dem Computer zeichnet. Auch hier ist wieder jedes Bild wie aus dem Leben geschnitten, egal ob es um das Einzige geht, worauf sich alle einigen können: den Mittagsschlaf …
… oder um stille Doppelseiten, fast ihr Markenzeichen, die ohne dramaturgischen Druck wie im Manga Stimmungen einfangen:
Das ultimative Buch zum Sommer. Das selbstverständlich am besten im Freibad gelesen werden sollte. Und nur damit das klar ist, meine Herren, die ihr auf dieser Website, glaube ich, die Mehrheit stellt: Das ist kein Frauencomic! Was auch immer das heißen könnte … Das ist bloß ein Comic, in dem Frauen die Hauptrolle spielen. Außerdem taucht im letzten Drittel sogar ein Mann auf, der neue Bademeister, was natürlich zu weiteren Streitereien führt. Aber er hat auch eine wichtige Botschaft für uns:
»Ich studiere in Berlin.«
»Was machst du dann hier?«
»Burn-out.«
»Vom Studieren?«
»Von Berlin.«
[Peter Lau]
Abbildungen © 2022 Jaja Verlag / Paulina Stulin
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