»Im ›Basic English‹ ist es unmöglich, eine Aussage ohne Sinn zu formulieren, ohne dass erkennbar wird, dass der Sinn fehlt. Dies erklärt, warum so viele Lehrer, Journalisten, Politiker und Literaturkritiker das ›Basic English‹ ablehnen.«
FRISCH GELESEN: Archiv
George Orwell
Die Comic-Biografie
Story: Pierre Christin
Zeichnungen: Sébastien Verdier
Knesebeck
HC | 152 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 978-3-95728-154-8
Genre: Biografie, Historie, Graphic Novel
Für alle, die das mögen: Pierre Christins Arbeiten mit Annie Goetzinger, Literatur, Politik und Zeitgeschichte
Eins vorab: Ich bin kein Fan von Biografien. Mich interessiert das öffentliche Werk eines Menschen mehr als dessen Privatsphäre. Freilich geht das eine schlecht ohne das andere. Wer sich mit dem Wirken einer Berühmtheit beschäftigt, landet zwangsläufig bei der Person dahinter und der Frage, wie diese wurde, was sie ist, wie sie erschaffen konnte, was sie schuf.
Allein schon zu Recherchezwecken zieren auch meine Bücherschränke unzählige Biografien. Von ihren Brüdern und Schwestern in der Siebten und Neunten Kunst, den Biopics und Comicbiografien, unterscheiden sie sich in zwei Punkten eklatant: Lektüreerlebnis und Umfang. Während beim Lesen klassischer Lebensbeschreibungen eigene Bilder im Kopf entstehen, geben Filme oder Comics diese vor. Dem Abgleich mit der Realität, mit dem Bild der Berühmtheit, das sich bereits im Gedächtnis eingebrannt hat, halten sie in den seltensten Fällen stand. Und wo niedergeschriebene Biografien oder Memoiren Hunderte Seiten oder mitunter ganze Regalmeter füllen, quetscht ein Film ein ganzes Leben häufig in nur zwei Stunden, ein Comic meist in weniger als 200 Seiten.
Backsteindicke Brocken wie Typex' Andy – A Factual Fairytale, der das nur 58 Jahre währende »Leben und Werk von Andy Warhol«, wie es im Untertitel heißt, auf 568 Seiten ausbreitet, sind die Ausnahme. Pierre Christin und Sébatsian Verdier widmen George Orwell lediglich 152 Seiten.
Das soll die Arbeit der Comickünstler nicht schmälern. Für einen einzelnen Zeichner bedeutet bereits die Umsetzung einer albumlangen Geschichte eine enorme Leistung. Aber vielleicht liegt hier ja ein Grundproblem: Vielleicht bietet sich ein ganzes Leben in Comicform einfach nicht an?
Strenge Seitenarchitektur: Eric Arthur Blair alias George Orwell und seine Frau Eileen in Französisch-Marokko.
Die Länge respektive Kürze ist beim vorliegenden Comic nicht das Problem. Christin packt alle wichtigen Lebensstationen erzählerisch verdichtet zwischen die Buchdeckel. George Orwell, so das Pseudonym, unter dem der Schriftsteller ab 1933 veröffentlichte, wurde aber auch nicht alt. 1903 als Sohn eines Kolonialbeamten und der Tochter einer Holzhändlerfamilie in Bengalen als Eric Arthur Blair geboren und mit seinen zwei Schwestern in der Grafschaft Oxfordshire aufgewachsen, starb er im Januar 1950, fünf Monate vor seinem 47. Geburtstag, im Londoner University College Hospital an Tuberkulose. Dazwischen liegt ein abenteuerliches Leben, wie es heute nur noch schwer vorstellbar ist.
Dem Abgleich mit der Realität hält das von Christin und Verdier gezeichnete Bild gleich in zweifacher Hinsicht stand. Zum einen trifft Verdiers schnörkelloser Strich Orwells äußere Erscheinung präzise. Die Enttäuschung darüber, wie weit selbst hervorragende Schauspieler von den durch sie verkörperten Berühmtheiten entfernt sind, stellt sich bei George Orwell nicht ein. Zum anderen hält diese Comicbiografie jede Menge Überraschungen bereit – zumindest für mich. Denn ich hatte bislang schlicht kein Bild von Orwell. Zwar habe ich dessen Dystopie 1984 gleich mehrfach und Animal Farm im englischen Original gelesen; auch war mir seine journalistische Tätigkeit (unter anderem für die BBC) bekannt. Ich wusste jedoch weder von Eric Arthur Blairs strenger Erziehung in einem englischen Internat und seiner Ausbildung bei der burmesischen Polizei noch von seinem Vagabundenleben in Paris, seinen Erlebnissen als Soldat im Spanischen Bürgerkrieg und seinem Einsiedlerdasein auf der Hebriden-Insel Jura in seinen letzten Lebensjahren.
Farbtupfer schleichen sich ins Schwarz-Weiß: hier das Plakatmotive von George Pals The Time Machine (1960), dessen Vorlage Eric als Kind verschlungen hat.
Ausreichend Stoff für eine aufregende Lebensrevue. Doch Christin entscheidet sich bereits auf den ersten Seiten dagegen, Orwells Vita mitfühlend und mitreißend zu schildern. »Der Anfang dieser Geschichte ließe sich als Hymne auf den Imperialismus à la Kipling erzählen«, schreibt Christin, auch als »Familiensaga im Stile von John Galsworth (sic!)«, als »exotische Geschichtensammlung nach Somerset Maugham« oder »romantisch-feministischer Roman«. Allen vier Möglichkeiten erteilt er eine Absage. Stattdessen seziert der französische Altmeister dieses Leben nüchtern, in einem journalistischen Ton, aus aktorialer Perspektive, dabei aber unsicher nachforschend, was Eric Arthur Blair letztlich zu George Orwell, was einen Jungen vom »unteren Rand der oberen Mittelklasse«, aus gutem Hause mit elitärer Erziehung zu einem konservativen Klassenkämpfer machte, den Freunde einen »anarchistischen Tory« nennen und Christin als »Anarchist oder zumindest Anti-Konformist« und als »Bohemien mit sozialem Verantwortungsgefühl« bezeichnet.
Die strenge erzählerische und zeichnerische Struktur dieses Comics trägt nicht gerade zum Lesevergnügen bei. In drei Kapiteln, einem (nicht als solchen betitelten) Epilog und einem Nachwort schreitet Christin Orwells Lebensweg chronologisch ab. Wie immer beim inzwischen 81-jährigen Franzosen erfolgt das auf hohem Niveau, aber eben auch erwartbar. Christin stellt Bezüge zwischen Blairs Leben und dem orwellschen Werk her – und er geht der all dem übergeordneten Frage nach, welche Bedeutung der Sozialismus heutzutage noch hat. Von erzählerisch weitaus kreativeren Biografien wie jüngst etwa Reinhard Kleists Knock Out! oder gar frei flottierenden Varianten wie Danny Boyles Filmbiografie Steve Jobs (2015), die das Leben und Werk des Tech-Gurus in drei Produktpräsentationen fulminant verdichtet, ist George Orwell ein gutes Stück entfernt.
Ab und an wird's richtig bunt: Ausschnitt aus Orwells Roman Tage in Burma.
Sébastian Verdier kleidet Christins enge erzählerische Vorgaben in ein vergleichsweise enges zeichnerisches Korsett. Seine Seitenarchitektur ist symmetrisch, seine Linien sind klar, die Innen- und Außenansichten detailreich. Ab und an mischen sich Fotografien unter die Panels. Gepaart mit den orwellschen Zitaten, die Christin in seine Erzählung einstreut, ergibt sich mituner ein collagierter Stil. Wiederholt bricht Verdier das Korsett mit einzelnen Farbtupfern auf, um für die Erzählung bedeutende Gegenstände oder Ereignisse hervorzuheben, oder sprengt es ganz, wenn er wie auf der oben gezeigten Doppelseite Passagen aus Orwells Romanen bunt und mit anderen Zeichen- und Maltechniken zu Papier bringt.
Wirklich überzeugend ist all das nicht. Wie die Beiträge diverser Gastzeichner – von André Juillard bis Enki Bilal, die verschiedene Episoden aus Blairs Leben und Orwells Werk in aufwendig gestalteten Splashpanels bebildern – wirken auch Verdiers farbenfrohe Ausreißer wie der bemühte Versuch, eine stets etwas zu dröge Erzählung aufzupeppen.
[Falk Straub]
Abbildungen © 2019 Knesebeck
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