Frisch Gelesen Folge 275: Kein anderer

»Wenn er heute dort ist, wird er morgen auch dort sein.«


FRISCH GELESEN: Archiv 


Kein anderer

Story: R. Kikuo Johnson
Zeichnungen: R. Kikuo Johnson

Reprodukt
Hardcover | 122 Seiten | Farbe | 20,00 €
ISBN: 978-3-95640-304-0

Genre: Slice of Life/Drama

Für alle, die das mögen: Ice Haven, Smile, Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt


 

In den Vereinigten Staaten erscheinen jedes Jahr verschiedenen Quellen zufolge bis zu einer Million neue Bücher, darunter auch jede Menge Comics. Allein Marvel hat geschätzt bis 2009 dreißigtausend verschiedene Titel veröffentlicht. Bei dieser Masse an Titeln stellt sich die Frage gar nicht, ob ein Werk wirklich eigen, individuell sein kann. Stets drängen sich Verweise und Referenzen auf. Und bei Kein anderer von R. Kikuo Johnson besonders.

Der schmale Comic des 41-jährigen US-Zeichners liest sich wie so ziemlich jede Kurzgeschichte im New Yorker. (Das ist der literarische Stil, den sich all die Berliner Autorinnen und Autoren so sehr draufschaffen, dass er bei ihnen zur Selbstkarikatur mutiert.) Wer Kein anderer damit noch nicht einordnen kann: Es liest sich, wie viele Filme beim Sundance Film Festival aussehen, auf deren Soundtrack sich Songs von Bon Iver und Sharon van Etten finden. Eine Referenz bei Comics? Die Werke von Daniel Clowes. Nur ohne sprechende Kartoffel-Frauen. Und selbst dann bleibt es der ungenauste Bezug in dieser Auflistung. Was diesen Comic eben doch eigen macht.


Wie ein Film beim Sundance Film Festival und doch eigen: eine Seite aus Kein anderer.


Auf knapp 100 Seiten geht Johnson den großen Fragen nach: Welche Rolle nehmen wir ein in unserem Leben? Welche Schuld und welche Verantwortung lasten wie auf uns? Charlene lebt mit ihrem Sohn Brandon auf Hawaii und kümmert sich um ihren kranken Vater. Doch ihr Vater verunglückt bereits auf den ersten Seiten tödlich. Die Routine aus Pflege, Beruf und Alltag skizziert Johnson so nur in wenigen Panels. Allerdings stellt sich auch danach keine Freiheit ein. Charlene stürzt sich in ihr Medizinstudium. Ihr Bruder Robbie, ein Kneipenmusiker, taucht ein paar Tage vor der Beerdigung des Vaters auf und zieht bei ihr ein. Ihr Sohn Brandon sucht nach seiner Katze Batman. Banales kann so kompliziert sein.


Brandon sucht nach seiner Katze Batman.


Denn Johnson interessieren keine philosophischen Debatten. Seine Figuren gehen dem Alltag so gut wie möglich nach. Unwichtiges bedeutet auf einmal mehr. Oder etwas ganz anderes. Charlene hängt sich bis zur Selbstaufgabe in ihr Medizinstudium und muss sich so weder mit dem Tod ihres Vaters noch mit ihrem Sohn auseinandersetzen. Niemand kommt mehr an sie ran. Sie ist eine Frau, die endlich einen Weg sieht, um ihr Ding zu machen. (Ironischerweise aber auch nur wieder in einem Beruf, in dem sie sich um andere kümmert.)

Ihr Bruder Robbie hingegen stahl sich davon, um seinen Traum zu leben. Mit überschaubarem Erfolg. Jedoch sei er ja glücklich, wie er anmerkt. Überhaupt: Glück. Was heißt das hier schon? Wie die Figuren ein ehrliches Gespräch miteinander vermeiden, wie so viele Dinge unausgesprochen bleiben, macht Kein anderer zu einer belastenden Lektüre. Weil es zu bekannt ist. Robbies Träumereien, dieses Versprechen der Popkultur von einer großen weiten Welt, in der es alle schaffen, wenn sie sich nur genug anstrengen, diese Träumereien sind hier nur noch Scherben und naive Momente eines erwachsenen Mannes mit Bäuchlein. Das Leben eines erfolgreichen Musikers sieht dann doch anders aus.


Naive Momente eines erwachsenen Mannes mit Bäuchlein.


Johnson hat all dies in einfachen Bildern eingefangen. Farben setzt er nur karg ein. Wenn es sein muss. Ein leuchtendes Orange taucht hier wie da auf. Als blasse Jugenderinnerung bei Robbie. Oder in einem Albtraum. Folgerichtig trägt auf der letzten Seite Brandons Erbrochenes diese Farbe. Alles muss raus. Kommt es aber nicht. Das oft sehr starre und fast unbewegliche Layout tut sein Übriges. Auf manchen Seiten fühlt sich dieser Comic so sehr nach Stillstand an.

Humor setzt Johnson nur sehr dosiert ein. Die Melancholie liegt hier über all diesen Momenten einer Familie, die nur noch aus Verantwortung zusammenhielt. Und jetzt gerade auseinanderzubrechen scheint. Auch wenn sich Robbie dagegenstemmt. Was ihn zu der tragischsten Figur in Kein anderer macht. Ein Zurück gibt es nicht.


Hier und da taucht ein leuchtendes Orange auf.


Mit all diesen Dingen hat Kein anderer mit Abstand am meisten mit der US-Literatur gemein, deren Kurzgeschichten sich oft genau so aufbauen. Mittels kurzer und karger Sätze fühlen sie sich so lebensnah und trist an. Johnson hat dies in einen großartigen und einfühlsamen grafischen Stil übertragen. Was Kein anderer dann vielleicht doch sehr eigen macht. Zumindest zu einem beeindruckenden Comic.

[Björn Bischoff]

Abbildungen © 2022 Reprodukt / R. Kikuo Johnson


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