Frisch Gelesen Folge 268: MW (Deluxe)

»Verlass mich niemals. Ich lasse dich nicht gehen!«


FRISCH GELESEN: Archiv


MW (Deluxe)

Story: Osamu Tezuka
Zeichnungen: Osamu Tezuka

Carlsen
Hardcover | 584 Seiten | s/w | 28,00 €
ISBN: 978-3-551-77910-6

Genre: Thriller, Mystery, Drama

Für alle, die das mögen: Gamma Draconis, Banana Fish



Auch der »Godfather of Manga« musste sich mal beweisen. Osamu Tezuka tat dies mit seiner Serie MW Ende der Siebzigerjahre. (So lässt es sich zumindest vermuten, beim heutigen Blick auf das Werk von Tezuka. Er starb bereits 1989.) Bei Carlsen erscheint der Manga nun in einem einzigen dicken Band als Deluxe-Ausgabe. Es sei das wohl düsterste Werk Tezukas, schreibt der Verlag. Was daran liegt, dass Tezuka auf Gekiga mit MW antwortete.

Mitte des 20. Jahrhunderts sind in Japan Comics für Kinder populär. Comics, wie sie Tezuka mit Astro Boy oder Kimba, der weiße Löwe machte. Gekiga richteten sich hingegen mit ernsten Handlungen an ein erwachsenes Publikum. Tezuka beherrschte auch das. Durch seinen Manga MW weht der Zeitgeist der Siebzigerjahre. Mit allen Schattenseiten.


Das Giftgas MW hat bei Yuki offenbar seine Spuren hinterlassen. Was Tezuka allerdings – als meisterhafter Erzähler – nie auflöst.


Auf einer Insel vor der Küste Japans ereignet sich in diesem Manga ein Zwischenfall mit dem Giftgas MW. Alle Einwohner sterben. Nur ein Kind und ein Jugendlicher überleben durch Zufall. Fünfzehn Jahre später ist aus Michio Yuki ein erfolgreicher Banker geworden, aus Garai ein Geistlicher. Doch MW ist keine Erbauungsgeschichte: Yuki scheint vom Teufel besessen. Er intrigiert, vergewaltigt und mordet nach Lust und Laune. Garai hingegen, beseelt von der Nächstenliebe, hadert mit seinem Freund und der Welt. Yuki erzählt ihm von seinen Taten. Garai ist dabei nicht nur in seiner Rolle als Geistlicher gefangen, er ist zudem Yukis Liebhaber. Es entfalten sich in MW Thriller, Mystery, Verschwörungstheorie und Drama gleichermaßen.


Hohes Erzähltempo: Die Eindrücke fliegen nur so dahin.


Tezuka erzählt diese Geschichte fast atemlos. Was auch an dem Stil des Manga liegt: Die Panels sehen manchmal fast wie Storyboards auf. Es gibt keine großen Panels über Doppelseiten, stattdessen fliegen die Eindrücke aus dieser Geschichte nur so dahin. Dazu ist MW aufgeladen mit Gewalt und Sex. Yuki wechselt sein Geschlecht offenbar mühelos und verführt Frauen wie Männer. Diese Szenen leuchtet Tezuka mal mehr, mal weniger aus. Absurd wird es hingegen, wenn Tezuka mal leichtere und übertriebenere Mimik einbaut, die so gar nicht zur sonstigen Atmosphäre passt. (Ein Hund – mit dem Yuki wohl auch kurz vorher Sex hat – beißt einem Mann den Penis ab. Seine entenhausenesken Ausrufe passen nicht wirklich zum sonstigen Geschehen.) Es verstört, weil es so unerwartet und unangekündigt passiert. Doch Tezukas Einsatz von Gewalt und Sex verkommt an zwei, drei Stellen leider zum Selbstzweck. Wie in manchen Horrorfilmen aus dieser Zeit setzt Tezuka nicht wirklich auf subtile Momente.

Es braucht dementsprechend nicht viele Kenntnisse der Zeitgeschichte. In MW arbeitet sich Tezuka nicht nur am Vietnamkrieg ab, sondern auch an der Rolle Japans in dieser Zeit. (Auch wenn es nie offensichtlich zum Ausdruck kommt und oftmals Regionen einfach Land X heißen.) Politik und Religion bieten keine Erlösung mehr. Im Gegenteil: Jeder Figur aus der Politik ist in diesem Manga verdorben und machtgierig. Garai gibt als Geistlicher ebenfalls kein gutes Vorbild ab. Als Jugendlicher missbrauchte er Yuki, der damals noch ein Kind war.


Weder Politik noch Religion bieten eine Lösung an. Vielmehr stürzen sie die Figuren in immer größere Probleme.


Nicht ein Charakter kann die Sympathie des Publikums gewinnen. Alles kaputte Gestalten. Nur Garai hat als Geistlicher Gutes im Sinn. Er will Yuki aufhalten. Denn Yuki will an die Reste des titelgebenden Giftgases kommen. Um damit (Überraschung!) böse Sachen anzustellen. Durch Tezukas Ansatz wird MW jedoch keine komplexe Geschichte. Im Gegenteil: Auf manchen Seiten wirkt es, als ob Tezuka unbedingt in düsterstem Ton erzählen wollte. Das mag für sein Selbstbewusstsein gut gewesen sein. Für die Geschichte jedoch nicht durchweg.

Dass sich der Titel an ein erwachsenes Publikum richtet, zeigt übrigens auch die deutsche Übersetzung. Denn MW erscheint als Deluxe-Ausgabe in westlicher Leserichtung. Die japanische Leserichtung mache Probleme, wenn das Publikum nicht zwingend mit Manga aufgewachsen sei, heißt es hierzu von Carlsen auf Nachfrage. Ältere Leser hatten in ihren Jugendtagen eben nicht zwangsläufig mal einen Band von Dragon Ball oder Sailor Moon in der Hand. Dementsprechend hat der Verlag auf den Band auch sein Logo für Graphic Novel und nicht für Manga platziert.



Keine besonders freundliche Welt: Tezuka zeigt viel Gewalt und Sex – was manchmal wie Trotz wirkt.


MW
mag vielleicht das düsterste Werk von Tezuka sein. Die rasende Erzählweise macht MW vor allem aus zeichnerischer Sicht spannend. Das hilft dann über die paar Seiten hinweg, in denen die Geschichte etwas hängt. Die Darstellungen von Gewalt und Sex mögen im Kontext von Tezukas Arbeiten schocken – jedoch wirken sie heute etwas verschämt. So ganz kann Tezuka sein Wirken nicht verleumden. Seine besten Momente hat er definitiv nicht in diesem Manga. MW bleibt aber auf jeden Fall sein ungewöhnlichstes Werk.

[Björn Bischoff]

Abbildungen: MW of the Works by Osamu Tezuka © 2021 by Tezuka Productions


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Oder beim Verlag: Carlsen