Frisch Gelesen Folge 352: Die Blüte von Paris

»Ein Garten ist nicht immer voller Blumen, Pflanzen oder Grünzeug. Ein Garten ist vor allem ein Ort, an dem schöne Dinge wachsen. Er kann überall entstehen. Jederzeit können wir etwas Garten nennen.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Die Blüte von Paris

Story: Gaëlle Geniller
Zeichnungen: Gaëlle Geniller

Carlsen
Hardcover | 224 Seiten | Farbe | 26,00 Euro
ISBN: 978-3-551-76016-6

Genre: Romanze

Für alle, die das mögen: Auf einem Sonnenstrahl (Tillie Walden), The City of Belgium (Brecht Evens), Trotz allem Liebe (Jordi Lafebre) und natürlich Liebe, Glück, Diversität



Was wäre, wenn alles gut wäre? Wie würden wir leben, wenn wir nicht von den Ruinen eines manisch aggressiven, patriarchalischen Systems umgeben wären, das sich mit allen Mitteln dagegen wehrt, besseren Zeiten zu weichen? Wie würden wir lieben, wären wir nicht in einem engen emotionalen Netz aus dem 19. Jahrhundert gefangen, das den Zwang zu genormten Beziehungen und Gefühlen als natürlich, wenn nicht gar romantisch idealisiert? Ich glaube, die Antwort ist ganz einfach: besser. Wir würden besser leben. Und lieben. So wie die Protagonistinnen in Die Blüte von Paris.

Rose zum Beispiel, der Sohn der Besitzerin des Tanzlokals Blüte. Er ist hinter den Kulissen, zwischen den Tänzerinnen aufgewachsen, und will, ungefähr volljährig oder vielleicht auch nicht, wen interessiert es, nun ebenfalls tanzen. Er betritt die Bühne anfangs unsicher, verzaubert aber bald die Gäste und hat recht schnell sogar einen Stammgast, einen Verehrer, der ihn stets aus der ersten Reihe bewundert. Eine Liebesgeschichte bahnt sich an, die von den anderen Frauen im Nachtklub freudig unterstützt wird. Sie ist wundervoll, aber auch unglaublich nichtexplizit – eine Romanze, wie sie romantischer kaum vorstellbar ist.

Das mondäne Nachtlokal, in dem verführerisch erotische Tänze zu sehen sind, könnte aus der Serie Babylon Berlin stammen, aber alles andere ist weit davon entfernt. Der Verehrer Aimee ist ein zarter Jüngling, der von dem jungen Rose ganz verzaubert ist, was sich auch nicht ändert, als sich die beiden endlich privat treffen – und Rose wie eine Frau gekleidet und geschminkt ist. Im Gegenteil: das alles scheint völlig normal. Selbst als die beiden aufs Land fahren, in die Heimat des charmanten Verehrers, gibt es keine Dramen wegen Gender Fluidity und verwandten Themen.

Das ist eine der Qualitäten dieses wundervollen Buches: die Abwesenheit von dramatischen Klischees. Wer jemals queere oder Trans-Geschichten gesehen oder gelesen hat, die in dieser Zeit spielen, kennt sie: Irgendwann tauchen Braunhemden und Schweinefressen auf, der Nachtklub brennt und die schönen Tänzerinnen, von denen niemand sagen konnte oder wollte, ob es Männer oder Frauen waren, liegen blutend in der Sackgasse hinter den Mülltonnen. Doch nicht hier. Alles ist gut – und das bleibt es. In dieser Hinsicht ist das Buch erfreulich dramaturgiefrei.

Das Glück ist ein seltenes Thema in Büchern, Filmen und Comics. Dafür gibt es zwei Gründe: Es gilt als langweilig und zudem dramaturgisch sehr schwierig, was auch stimmt, zumindest in der aktuell dominanten Mainstream-Dramaturgie, die von den amerikanischen Grundproblemen Dissens, Mangel und Gewalt geprägt ist. Das Leben in Eintracht, Überfluss und Sanftheit zu erzählen, scheint uns dagegen öde, wenn nicht sogar absurd – wie soll das interessant sein? Nun, vielleicht wie ein Bad in Endorphinen?

Dieses Buch macht glücklich – was auch an den Zeichnungen liegt. Gaëlle Genillers Bilder sind leicht und hell, von Licht durchzogen und von Blumen übersät. Die Farben sind so vorsichtig wie die Figuren, die unaufdringlich umeinander herumtänzeln, und die zarten Striche, die sich manchmal zu wunderschönen Art-déco-Mustern zusammenfinden, sind bei aller Präzision niemals hart. Alles sieht aus, als wäre es gerade ungeahnten Blumen entschlüpft – das Buch ist ein einziges, sanftes Entblättern.

Trotzdem gibt es natürlich Probleme: Welche Wege kann eine ungewöhnliche Liebe finden und gehen? Wie verändert der Erfolg den Menschen? Kann ich bleiben, wie ich bin und trotzdem tun, was anderen gefällt? Es sind gute, zivilisierte Fragen, die das Buch aufwirft, für ein gutes, zivilisiertes Leben. Die Botschaft dahinter könnte lauten: Wenn alles gut ist, kann es immer noch besser werden – was für eine schöne Perspektive.

Ich sage nichts gegen die vielen Geschichten, in denen es um Probleme mit Sexualität geht, dem Finden der eigenen Identität und den oft unfassbar destruktiven Reaktionen der Umwelt – schon gar nicht, wenn sie auf persönlichen Erfahrungen beruhen. Aber manchmal ist es schön zu sehen, wofür wir diesen endlosen Kampf gegen Homophobie, Empathiearmut und am Ende Petromaskulinität eigentlich führen. Hinter dem absurd engen Horizont, unter dem wir leben sollen, geht es unendlich weiter – und dieses Buch ist ein Ausblick darauf.

[Peter Lau]

Abbildungen © LE JARDIN, PARIS by Gaëlle Geniller © Editions Delcourt – 2021 © 2023 Carlsen Verlag GmbH


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