Frisch Gelesen Folge 374: Eine Weihnachtsgeschichte

 

»Marley war tot, da bestand nicht der geringste Zweifel.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Eine Weihnachtsgeschichte

Text: José-Luis Munuera und Charles Dickens
Zeichnungen: José-Luis Munuera

Carlsen
Hardcover | 79 Seiten | Farbe | 24,00 €
ISBN: 978-3-551-77128-4

Genre: Funny/Drama

Für alle, die das mögen: Weihnachten, viktorianisches Zeitalter, Romantik, Gemütlichkeit, Literaturadaptionen



Die schönste Weihnachtsgeschichte beginnt mit dem Satz »Marley was dead: to begin with«. Es handelt sich bei dem bedauernswerten Marley um den Mitinhaber des Warenhauses Scrooge & Marley. Und damit dürfte klar sein, um welche Geschichte es geht: Charles Dickens' A Christmas Carol. Dickens hält in seinem Text gekonnt die Balance zwischen Kitsch und Herzenswärme. Alle Versuche, diesen Stoff zu adaptieren – von Die Geister, die ich rief bis hin zu Die Muppets Weihnachtsgeschichte – mussten kläglich scheitern, weil Dickens' Text, so wie er ist, genial ist. Einer der neuesten Versuche, das moderne Märchen in ein anderes Medium zu übertragen, stammt von Jose Luis Munuera. Seine Weihnachtsgeschichte spielt mit Dickens' Hauptfigur und macht aus dem Geizhals Ebenezer Scrooge eine Frau: Elizabeth Scrooge.

Elizabeth ist schön: groß, schlank, makelloses Gesicht. In ihrem Herzen herrscht aber die gleiche Eiseskälte wie bei ihrem literarischen Vorbild. Den Menschen, die für die bedürftigen Kinder um Spenden bitten, schleudert sie beispielsweise entgegen: »Diese Plage müsst ihr ausrotten, statt sie zu unterstützen.«

Munuera gibt der Geschichte viel Text, denn das braucht sie auch, um sich wirklich zu entwickeln. Vor allem die Hauptperson, Elizabeth Scrooge, benötigt viel Platz für sich. Schließlich muss es dem Erzähler gelingen, ihre Wandlung vom Scheusal zum Menschenfreund verständlich darzustellen.

Anders als bei Dickens lässt Munuera seine Mrs Scrooge am Ende zwar gute Taten vollbringen, aber sie hat sich nicht ganz gewandelt. Das Mädchen, dem sie nach den vier Geistern den Auftrag gibt, den großen Truthahn aus der Metzgerei zu holen, bekommt von ihr ein geschäftliches Angebot (je nachdem wie schnell sie ist, fällt ihr Erlös von sehr gut bis gar nicht aus). Den edlen Herren, die Spenden für bedürftige Kinder sammeln, erzählt sie etwas von Marleys letztem Willen, den sie umsetzen muss und dass sie es eigentlich gar nicht will. Von alledem berichtet Dickens nicht. Bei ihm ist Scrooge komplett umgepolt. Er ist die Güte in Person, spendet und schenkt Lebensfreude. Möglicherweise war das dem spanischen Comickünstler zu viel Kitsch, oder er sah auf 79 Comicseiten nicht die Möglichkeit, diese Umpolung sinnvoll und nachvollziehbar zu gestalten. Es wird sein Geheimnis bleiben.

Aber es gibt auch Dinge, die wirklich gelungen sind: Der spanische Zeichner, der hierzulande vor allem dadurch für Aufsehen sorgte, dass er vier Alben der klassischen Serie um Spirou und Fantasio zeichnete, trifft mit seinem melancholischen Zeichenstil die Atmosphäre des Originals schon ziemlich gut. Das viktorianische Elend, der Snobismus – alles in sehr feinen und sehr stimmungsvollen Bildern eingefangen. Dabei überwiegen die Blautöne, was angesichts der Geschichte durchaus Sinn ergibt – Kälte und Unbehagen. Nur wenn Bob Cratchit auftaucht, dann wechselt Munuera gerne in bräunliche Töne.

José-Luis Munuera reiht sich also ein in die Liste der unzähligen Adaptionen von Dickens' grandioser Weihnachtsgeschichte. Natürlich kann auch er dem Großmeister der englischen Erzählkunst nicht das Wasser reichen. Aber der Spanier liefert eine amüsante Comicversion des Klassikers, die vielleicht für eine lesemüde Generation gemacht ist, die sich mit dem Original nicht abmühen möchten. Ich gebe sieben von zehn Weihnachtsgeistern.

[Bernd Hinrichs]

Abbildungen © DARGAUD BENELUX (DARGAUD-LOMBARD S.A.), by Munuera / Carlsen


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