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Frisch Gelesen Folge 404: Columbusstraße

 

»Meine größte Sorge ist eigentlich, dass die Nationalsozialisten irgendwann den Sozialismus in ihrem Namen wörtlich nehmen. Nicht auszudenken.«
»Da sagst du was. Ich habe nicht mein Leben lang so hart gearbeitet, um mir das alles wieder abnehmen zu lassen. Dann schon lieber die Nationalsozialisten.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Columbusstraße

Story: Tobi Dahmen
Zeichnungen: Tobi Dahmen

Carlsen
Hardcover | 528 Seiten | s/w | 40,00 €
ISBN: 978-3-551-79663-9

Genre: Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Maus, Der Duft der Kiefern, Fahrradmod



Wie konnten die Nazis an die Macht kommen? Wieso haben die Deutschen bei der Verfolgung und Ermordung von Millionen Juden und anderen Menschen mitgemacht? Wieso sind sie ohne Widerspruch in den Krieg gezogen? Wie war es möglich, dass ein ganzes Volk ein beispiellos gewalttätiges, willkürliches und unfähiges Terrorregime akzeptiert hat, sogar noch, als sein Scheitern absehbar war? Diese Fragen werden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder gestellt, in den vergangenen Jahren angesichts des Aufstiegs der rechtsradikalen Parteien mit neuer Dringlichkeit. Aber sie werden nur selten so überzeugend beantwortet wie in diesem Buch.

Der Autor und Zeichner Tobi Dahmen hat aus Briefen und Erzählungen die Geschichte seiner Familie zwischen 1935 und 1945 rekonstruiert. Das Familienoberhaupt, Dahmens Großvater, war Anwalt, die Mutter hat brav den Haushalt gemacht und sich um die Kinder gekümmert, die, als sie alt genug waren, gut gelaunt und beseelt von einer unfassbaren Naivität in den Krieg gezogen sind. Nur Dahmens Vater, der Jüngste, hat von allem nicht viel mitbekommen, weil er in die Provinz geschickt wurde, wo der Krieg für ihn lange kaum mehr war als ein Gerücht, von anderen Gräueln ganz zu schweigen. Es waren nette Leute, intelligent, gebildet, wohlhabend, das Bürgertum, das humanistische Werte vertrat und an Gott glaubte, in diesem Fall den katholischen. Und das einfach mitmachte. Das ist nicht die Banalität des Bösen – es ist die Banalität des Banalen.

Dahmen erzählt ordentlich und chronologisch, wie es wohl auch sein Großvater getan hätte, ein Anwalt, der an Gerechtigkeit glaubte und selbstverständlich auch Juden vertrat, gegen die er überhaupt nichts hatte, warum auch? Es beginnt mit verhaltener Freude, weil die Wirtschaft plötzlich läuft, aber auch einem gewissen Misstrauen gegenüber den Nazis, die nicht zu den bürgerlichen Idealen passen. Doch nach den bleiernen Zwanzigern geht es zumindest voran, mit vielen kleinen Anpassungen im Alltag, deren Summe aber niemand erkennt, bis zum Krieg, von dem alle glauben, dass er schnell vorbei sein wird. Ist er aber nicht. Der Krieg zieht sich und die Fronten erstarren, in Russland wird es Winter und Sommer und wieder Winter und Sommer. Zu diesem Zeitpunkt fallen längst Bomben auf deutsche Städte, überall sind Trümmer, zwischen denen Menschen fassungslos auf eine Welt starren, die sie nicht verstehen.

Dahmen personalisiert das alles mit kleinen Episoden, die ihm vermutlich erzählt wurden, und zeigt Fotos und Auszüge aus alten Briefen, auch von der Front. Die Feldpostbriefe werden im Verlaufe des Krieges immer realitätsferner, was beim Lesen etwas dümmlich wirkt, aber die Frontpost wurde zensiert, die Realität durfte nicht erzählt werden, was im Buch leider nicht erwähnt wird – eine der ganz wenigen Schwächen. Dafür zeigt Dahmen in seinen Bildern die Kämpfe angemessen drastisch und liefert parallel Daten. Er erklärt zum Beispiel die Operation Barbarossa, den Überraschungsangriff auf die Sowjetunion 1941, und zitiert nach ihrem Scheitern aus den Kriegstagebüchern des Wehrmachtführungsstabs: »Als die Katastrophe des Winters 1941/42 hereinbrach, wurde dem Führer klar, dass von diesem Kulminationspunkt an kein Sieg mehr errungen werden konnte.«

Dazu passt der schlichte, dokumentarische Zeichenstil, dem die Recherche anzusehen ist, insbesondere bei den Szenen in Deutschland: So sahen die Städte aus, bevor die Nazis lieber das Land zerstören ließen, als ihre irren Pläne aufzugeben. Die große Nähe und die realistische Darstellung sorgen dafür, dass die Charaktere verständlich und nachfühlbar bleiben, sie führt aber manchmal auch zu erstaunlichen Lücken. Die Reichskristallnacht findet nur auf zwei Seiten statt, als eine Straße voller Scherben, die die einzige Tochter der Familie verständnislos anstarrt – sie ist von ihr weitaus weniger beeindruckt als von den ersten Prügeln ihres Vaters. Aber ist das vielleicht richtig so? Die Nacht, in der Judenhass zelebriert wurde, ist ein wichtiges Symbol, aber das Patriarchat, das der Vater, das Familienoberhaupt, immer wieder ganz selbstverständlich auslebt, wie ein, genau, Führer, ist eine Art der Gewalt, die nicht zufällig in Systemen wie der Naziherrschaft mündet. Die strukturelle Gewalt und Willkür der Spitzel, Richter und Geheimpolizei und erst recht die Barbarei in den Lagern ist die finale Erfüllung der grenzenlosen Macht des Patriarchen.

Ich glaube, Tobi Dahmens Großvater hatte nichts gegen die Nazis, weil er die Welt, die sie schaffen wollten, besser verstand als alles, was sonst hätte passieren können, von einer Machtübernahme der gottlosen Kommunisten bis zur Verbreitung der jüdischen Kultur Berlins, in der eine drogensüchtige Nackttänzerin wie Anita Berber zum Star werden konnte. Ich fand das Verhalten der Hauptfiguren im Verlauf des Buches zunehmend unverständlich und dachte lange: Die sind einfach dumm. Aber das sind sie nicht. Der Mann ist Jurist! Der älteste Sohn studiert Jura! Alle waren im Gymnasium! Nein, es fehlt ihnen etwas anderes: Fantasie. Sie konnten sich nichts anderes vorstellen als die Welt, aus der sie kamen. Und die Nazis versprachen ihnen, dass alles so bleiben werde. Nur besser. Also machten sie mit. Und als langsam klar wurde, dass das ein Fehler war, kamen sie nicht darauf, sich zu wehren. Auch dafür fehlte ihnen die Fantasie.

Nachdem ich Columbusstraße gelesen hatte, war ich neugierig auf Fahrradmod, Tobi Dahmens erste Graphic Novel von 2016, in der er autobiografisch von verschiedenen Jugendbewegungen erzählt, denen er mehr oder wenig überzeugt angehört hat. Nach der Geschichte über eine Familie in den Dreißigern und Vierzigern, die mitgemacht hat, weil ihr nichts anderes einfiel, konnte ich die Parallelen zu der in den Achtzigern und Neunzigern angesiedelten Handlung schwer übersehen. Auch Dahmen will dazugehören, genau wie seine Vorfahren, sucht lange nach etwas, was zu ihm passt, wird schließlich begeisterter Mod und findet Erfüllung als Teil einer Masse, die klaren Regeln folgt. Die Idee, sich etwas eigenes zu überlegen und als Individuum zu leben, kommt ihm gar nicht.

Columbusstraße und Fahrradmod ergänzen sich zu einer faszinierenden Studie einer Art des Lebens, die auf Opportunismus basiert. Ich glaube, das ist nicht selten. Viele Menschen wollen dazugehören, zu einem Land oder Glauben, einer Organisation oder Bewegung, und das macht sie nicht schlechter. In Columbusstraße gibt es Szenen echten Heldentums solcher Menschen, einmal sehr physisch in einer brennenden Fabrik, einmal unglaublich konsequent, als jemand lieber stirbt, als seinen Glauben zu verraten. Individualismus dagegen gibt es in beiden Büchern kaum. Um also die Frage vom Anfang zu beantworten: Die Menschen wollten dazu gehören, die Nazis machten ein scheinbar gutes Angebot, und als sich herausstellte, dass das Angebot ein Dreck war, gab es keine Alternativen mehr. Das Unvorstellbare passierte, weil sich ganz viele Menschen nichts vorstellen konnten. Es wäre sicher besser gewesen, sie wären alle Mods geworden. Aber noch besser hätte es sein können, hätten sie sich selbst etwas überlegt.

[Peter Lau]


Abbildungen © Tobi Dahmen, Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2024

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