»In unserer Heimatstadt durchkämmten wir mindestens einmal in der Woche sämtliche An- und Verkaufhandlungen [sic], die neben allem möglichen Plunder auch alte Romane und manchmal auch Comic-Hefte führten. Man konnte dort auch Hefte im Verhältnis zwei zu eins eintauschen, was unserer mageren Taschengeldkasse sehr zugute kam.« (Der Autor im Vorwort)
FRISCH GELESEN: Archiv
Enzyklopädie deutscher Piccolo-Bilderhefte Band 1: »Die Anfangs-Jahre 1953 & 1954«
Autor: Hermann J. Mencer
ComicSelection C. Kuhlewind Verlag
Hardcover | 204 Seiten | Farbe | limitiert auf 300 Exemplare | 69,00 €
ISBN: 978-3-9817305-0-0
Genre: Sekundärliteratur [Bildband]
Für alle, die das mögen: Piccolos, Lehning Comics, Nostalgisches, Akim, Sigurd, Hansrudi Wäscher
Das Gesetz des Dschungels ist hart. Fressen und Gefressenwerden. Das wissen nicht nur gut gebaute und leicht bekleidete Urwaldrecken wie Tarzan, Akim und Tibor ganz genau. Oder Wild-West-Helden wie El Bravo und Buffalo Bill, deren Gegenspieler gerne mal vom Faustrecht oder dem Schießeisen Gebrauch machen. Natürlich wissen das im besonderen auch die Leser ihrer Abenteuer; speziell die Kids der sogenannten »Generation Lehning«, also jene Kinder, die in den Wirtschaftswunderjahren nach dem Zweiten Weltkrieg mit Piccoloheften aufgewachsen sind.
Das kann sich der durchschnittliche Teenager von heute gar nicht mehr richtig vorstellen: kein Fernseher, keine Videospiele, kein Internet, kein Wischen und Daddeln. Einfach nur lesen und mit simplem Stoff dem grauen Alltag entfliehen. Die bunten Bilderserien, publiziert von umtriebigen Verlagen wie Lehning, wirkten mit ihren süchtig machenden Titelbildern wie Dope auf die kleinen Jungs von damals. Einer von Ihnen war Hermann Mentzer, welcher dieses Jahr unter dem Künstlernamen »Hermann J. Mencer« mit seiner Enzyklopädie deutscher Piccolo-Bilderhefte für Furore sorgt.
Nun, wie es scheint, sind die Gesetze des Dschungels auch auf die hiesige und heutige Fan- und Comicsammlerszene anwendbar. Nur gilt hier nicht das »Recht des Stärkeren«, sondern das »Recht des Wissenderen«. Plus: Wer am lautesten schreit, der darf sich in größtmöglicher Aufmerksamkeit suhlen. Doch der Reihe nach.
Das Drumherum zu diesem atemberaubenden »Menzyklopädie«-Projekt liest sich wie ein raffiniert gestrickter Groschenromanplot. Als im Frühjahr 2015 der bis dato völlig unbekannte Kleinverlag ComicSelection C. Kuhlewind sein Großprojekt mit einigem Tamtam ankündigte, brannten relativ schnell bei einigen in der Szene die Sicherungen durch. Da das ambitionierte Projekt mit exaltiertem Gehabe pompös vermarktet wurde, wurde der Verlag umgehend samt seinem Autor an den Pranger gestellt. Die in der Szene vorab bis ins ferne Wien kursierenden Probedrucke wurden von den einen zwar für optisch toll befunden, aber von den anderen als inhaltlich teilweise fehlerhaft und unvollständig gebrandmarkt. Das wäre ja gar keine komplette Enzyklopädie und außerdem wäre die Geheimniskrämerei, die »der Autor« um seine Person betreiben würde, nicht akzeptabel. Und mit Copyrights, Quellenangaben oder dem Urheberrecht stünde dieser ebenfalls auf Kriegsfuß.
In der Tat war (und ist) so einiges von den Machenschaften von »Mencer« & Co. dubios. Im Internetforum Comicforum gebärdeten sich sowohl der Verlag als auch der Autor wie die buchstäblichen Elefanten im Porzellanladen. Flankiert wurde man von der hauseigenen Rechtsabteilung des Verlags, die gespickt sein soll mit »Top-Anwälten«, die sich - ohne mit der Wimper zu zucken - mit Hansrudi Wäscher anlegten und zeitweise sogar HRWs Urheberschaft an so manchem geliebten Comicheld der 1950er Jahre, wie Falk, Nick und Tibor, anzweifelten. Als im Comicfachmagazin Die Sprechblase auf vier engbedruckten Seiten das Buchprojekt und sein Autor fein säuberlich verbal filetiert wurden, kam das für die Macher der Enzyklopädie einer Kriegserklärung gleich.
Fortan entwickelte sich innerhalb weniger Tage im Comicforum ein grenzwertiger Schlagabtausch, der die ganze Szene unterhielt. Im Kern war das aber noch schlimmer als zu Zeiten der übelsten Grabenkämpfe à la »Knigge vs. Sackmann«, denn im Internet gibt es kaum Grenzen. Und man kann munter unter Pseudonym argumentieren. Mit »dem Autor« und »der Verlegerin«, die wechselseitig unter dem gleichen Namen auftraten, tummelten sich Apachen, Stephan und Harry (bekannt aus Derrick), Taranteln und noch einige mehr. Dabei wurde ein ums andere Mal die Grenze des guten Umgangs überschritten, denn bei der sich zuspitzenden Hexenjagd auf Autor und Verlag, welche sich einfach nicht die Zündung einstellen lassen wollten, drohte man auch schon mal mit Denunziation. Als es ausartete und der Diskussionsthread von der Administration geschlossen wurde, wurde später einfach ein neuer aufgemacht. Als auch dieser ausartete, wurde ein dritter aufgemacht. Und wenn sie nicht gestorben sind, streiten sie noch heute.
Aber wie sieht es aus mit dem Stein des Anstoßes? Inzwischen ist er tatsächlich doch noch erschienen. Der erste Band der umstrittenen Enzyklopädie deutscher Piccolo-Bilderhefte liegt in seiner ganzen Pracht vor. Mit mehr als 200 Seiten im Supergroßformat 41,5 x 29 x 1,6 cm, was in etwa DIN A 3 entspricht, und einer wahren Bilderflut von mehr als 800 Abbildungen, wirkt das opulent illustrierte Buch alleine schon durch seine Präsenz imposant.
Die Reihe ist auf zehn (!) Bücher konzipiert und soll einen vollständigen Überblick über sämtliche Piccolo-Comichefte und verwandte Serien vorstellen, die von 1953 bis 1968 vornehmlich im Lehning Verlag erschienen sind. Der Clou an der Sache ist, dass dies chronologisch geschieht und die Titelbilder der Streifenhefte von damals im Maßstab 1:1 in Originalgröße reproduziert werden. Somit behandelt der Startband »Die Anfangs-Jahre: 1953 & 1954«.
Nach einem ausführlichen Vorwort des Autors, welches den Beginn von Mencers Comicsammelleidenschaft anschaulich beschreibt und gelungen auf »die gute alte Zeit« einstimmt, geht es los mit den Nummer Einsen der ersten drei Piccolo-Bilderserien Akim, der Sohn des Dschungels, El Bravo und Carnera, die am 26. Juni 1953 erschienen sind. Den Abbildungen wird auf jeder Seite viel Platz eingeräumt. Da dürfte das Herz eines jeden Nostalgie-Fans schneller und höher schlagen, denn so kommen die Zeichnungen, welche die Leser von damals beeindruckten, voll zur Entfaltung.
Die Idee, die Comicserien chronologisch aufzulisten (und nicht für sich separat), ist eine durchaus originelle, denn so stellt sich in der Tat ein gewisser Zeitreiseeffekt ein und man kann Zusammenhänge besser verstehen. Alle sind sie da: neben den bereits genannten ersten drei Helden auch Sigurd, Peterle, Der rote Adler, Harry der Grenzreiter, Fulgor der Weltraumflieger, Jezab der Seefahrer, Raka der Held des Jahres 2000 und Blauer Pfeil. Allerdings ist das Layout etwas zu starr geraten und rückt kaum von dem Grundkonzept ab, vier Piccolostreifen pro Seite abzubilden. So wirken kleinere Bilder, die auf manchen Seiten zusätzlich am Rand (nachträglich) platziert worden sind, eher wie Fremdkörper und, im Vergleich zu den großen Piccolo-Covermotiven, viel zu klein.
Mencer hat seine Hausaufgaben nach der im Vorfeld auf ihn einprasselnden Kritik gemacht. Ein Großteil der ursprünglich bemängelten inhaltlichen Fehler wurden in der fertigen Fassung ausgemerzt. Die Texte, die sich kommentierend auf manchen Seiten am Rand befinden, sind im Grunde aber eher Beiwerk und beschränken sich vornehmlich auf Feststellungen, wie man sie in Aufzeichnungen von Sammlern findet, oder Informationen, wie man sie aus der einschlägigen Sekundärliteratur schon kennt. Es wird kaum gewertet, mitunter fehlt die nötige Distanz zum beschriebenen Objekt, aber das ist bei liebevoll gemachten Fan-Publikationen auch nicht anders und wird auch nicht erwartet.
Mitunter merkt man, dass sich der Autor mit etabliertem Comicglossar nicht auskennt, wenn er z.B. einen Funny-Comic als »Fun-Serie« bezeichnet. Stellenweise vergaloppiert er sich mit angestellten Vermutungen oder wiederholt sich. Gleich in zehn übers Buch verteilten Abschnitten betreibt er sogenannte »Spurensicherung«, was sich vornehmlich darin erstreckt, dass er die Titelbilder von am Rand schlecht beschnittener Hefte untereinander abbildet, um zu beweisen, dass diese in der Druckerei zusammen gedruckt wurden. Nicht nur, dass diese Erkenntnis für die meisten Fans nicht wirklich neu ist. Es wird völlig außer Acht gelassen, dass auch bei Lehning schnell und billig produziert werden musste und so manches »Beweisstück« auch dem Zufall geschuldet war, also keine besondere Absicht dahinter steckte.
Auch wenn das Layout, besonders im Vergleich zu Büchern von wirklich professionell arbeitenden Verlagen wie TASCHEN, eher einem gut gemachten Fan-Produkt gleicht, ist es in sich stimmig und lässt die Abbildungen frei der Geltung kommen. Und auch wenn sich so mancher »Flüchtigkeitsfehler« (O-Ton vom Verlag auf meine Nachfrage) eingeschlichen hat, ist dieser Auftakt der Enzyklopädie deutscher Piccolo-Bilderhefte ein charmanter, schön produzierter Bildband, welcher für Mitglieder der Generation Lehning wie gemacht ist. Eine Buchreihe mit diesen Dimensionen hat bislang noch keiner gewagt, eben, weil es so schwierig ist, eine komplette Sammlung in Zustand 1 zusammenzutragen und die Titelbilder so zu reproduzieren, dass sie »wie echt« wirken.
Die Begleitumstände um das Projekt sind zu verurteilen, ja zu verachten. Was bleiben sollte, ist ein wichtiges Buch, das mit seiner äußeren Erscheinung beeindruckt und eine tolle Ergänzung jeder Lehning-Sammlung sein könnte. Es weckt Assoziationen, es macht Spaß darin zu blättern, zu lesen und zu schwelgen. Auch wer nicht zur engeren Zielgruppe gehört, dürfte seine Freude daran haben, insbesondere wenn auch weitere Bände erscheinen sollten, weil diese Enzyklopädie in beeindruckender Art ein interessantes Gebiet deutscher Comichistorie abdeckt.
Die Auflage ist auf 300 Exemplare limitiert. Auch bei dem stolzen Preis von 69 Euro, der für das, was man geboten bekommt, angemessen ist, wird sich das Buch an die Zielleserschaft gut verkaufen, wenn sie es einmal in den Händen gehalten hat.
Band 2 soll laut Verlag schon am 30. Januar 2016 erscheinen. Nicht jeder ist davon überzeugt, da ein entsprechender Bildlizenzvertrag mit Hansrudi Wäscher noch nicht unterzeichnet ist. Aber wer weiß, Band 1 ist trotz aller Widrigkeiten und enormem Gegenwind im Vorfeld auch erschienen. Vielleicht lassen Macher und Kritiker auch einfach mal das Gesetz des Dschungels außen vor und helfen sich gegenseitig, statt sich zu beschimpfen und zu belehren. Das Projekt könnte noch einen kompetenten Lektor, der sich auch inhaltlich mit der Materie auskennt, gebrauchen. Es bleibt jedenfalls spannend. Wird es auch 2016 heißen »Fortsetzung folgt«?
[Matthias Hofmann]
Abbildungen © 2015 ComicSelection; Sigurd, Nick, Falk, Tibor © Hansrudi Wäscher / becker-illustrators
Kauft den Band im gut sortierten Comicfachhandel: CRON-Händlerverzeichnis
Oder direkt beim Verlag: ComicSelection C. Kuhlewind Verlag