»Eine große Bewegung hat sich jetzt auf den Weg gemacht – die zunehmende Macht der Frauen.«
William Moulton Marston (Februar 1941, Kommentar, als er sein erstes Wonder-Woman-Manuskript beim Redakteur Sheldon Mayer einreichte)
FRISCH GELESEN: Archiv
Die geheime Geschichte von Wonder Woman
Text: Jill Lepore
C.H. Beck
Hardcover | 552 Seiten | s/w + Farbe | 29,95 €
ISBN: 978-3-406-78455-2
Genre: Sekundärliteratur
Für alle, die das mögen: Wonder Woman, DC Comics, Geschichte der US-Comics, Geschichte des Feminismus
Mitte der 1970er Jahre hatte ich die Superheldencomics entdeckt und lieben gelernt: Marvels aus dem Williams Verlag. »Natürlich!« möchte man meinen. Denn das waren damals die coolen Helden. Die mit den richtigen Problemen. Keine Außerirdischen wie Superman, keine Multimillionäre wie Bruce Wayne. Einer wie Peter Parker war Schüler wie wir.
Trotzdem habe ich auch die Hefte der Konkurrenz verfolgt. Damals erschienen die DC Comics bei Ehapa. Es gab die Kernserie mit Superman- und Batman-Comics, und besonders der in jenen Jahren noch in Stuttgart ansässige Verlag erweiterte seine Superhelden-Produktpalette enorm mit Sonderheften, Alben und Taschenbüchern. Somit war ich 1976 von Anfang an mit von der Partie, als Serien wie Roter Blitz und Wundergirl starteten, die beide immerhin bis 1983 publiziert wurden.
Die Historie von Wonder Woman, wie sie im Original und heutzutage auch in Deutschland heißt, ist Thema eines bemerkenswerten Sachbuchs der US-amerikanischen Harvard-Professorin und Autorin Jill Lepore, das jüngst im Verlag C.H. Beck erschienen ist.
Dieses Enthüllungsbuch über die erste Superheldin von DC Comics erschien in den USA bereits 2014. Im Zuge von Lepores erfolgreichem Sachbuch Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, das 2019 vom gleichen Verlag auf Deutsch veröffentlicht wurde, fand nun erfreulicherweise auch Die geheime Geschichte von Wonder Woman den Weg zu uns.
Lepore rekapituliert in ihrem gut geschriebenen Sekundärwerk in erster Linie das Leben von William Moulton Marston, der Wonder Woman erfunden und sich davor als Doktor, Universitätsdozent, Psychologe und Autor einen Namen gemacht hat.
Marston war seiner Zeit voraus, denn er erfand nicht nur den Lügendetektor, sondern favorisierte auch das Matriarchat und kann als früher »männlicher Feminist« gelten.
Er lebte in einer polyamoren Beziehung mit zwei Frauen, hatte sogar mit jeder zwei Kinder und hielt dieses Beziehungsgeflecht nicht nur vor der Außenwelt geheim, sondern auch gegenüber seinem Nachwuchs. Beide Frauen wirkten inspirierend auf die Erschaffung von Wonder Woman.
Seine Superheldin debütierte Ende 1941 in All-Star Comics #8, genau zu dem Zeitpunkt, als die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg eingetreten sind. Danach zierte sie nicht nur das Titelbild der ersten Ausgabe der neuen Serie Sensation Comics, sondern auch die aller folgenden Nummern. Sie war: »So schön wie Aphrodite – so klug wie Athene – so schnell wie Merkur und so stark wie Herkules – man kennt sie nur als Wonder Woman, aber niemand weiß zu sagen, wer sie ist oder woher sie kam.«
Die Geschichte der Comicserie von Wonder Woman ist in Comicfachkreisen der USA eigentlich sehr gut dokumentiert, sodass Leser entsprechender Fachbücher und Magazine wie Alter Ego hinlänglich informiert sein dürften, und doch ist das Buch von Jill Lepore auch Insidern zu empfehlen, denn die Autorin hat nicht nur die einschlägige Sekundärliteratur durchforstet, sondern auch Zeitzeugen befragt und in den verschiedensten Archiven vieles selbst recherchiert.
Dabei entdeckte sie Hinweise auf eine Dreiecksbeziehung zwischen Marston und der feministischen Psychologin Elizabeth Holloway und Olive Byrne, der Tochter der Frauenrechtlerin Ethel Byrne. Diese war nicht nur die jüngste Schwester von Margaret Sanger, einer Aktivistin der Bewegung für Geburtenkontrolle und Zwangssterilisation, sondern auch die erste Frau in den USA, die zwangsernährt werden musste, weil sie wegen ihres Kampfs für mehr Frauenrechte in einen Hungerstreik getreten war.
Lepore verwebt die Entwicklung der Frauenbewegung in den USA geschickt mit der Historie von Marston und dessen bekanntester Schöpfung Wonder Woman. Dabei spart sie auch Marstons Vorlieben nicht aus, wie z.B. seinen Bondage-Fetisch und seine Fixierung auf das Aufdecken von Lügen. Kaum ein Golden-Age-Superheld wird so oft gefesselt wie Wonder Woman, die Amazone von der Paradiesinsel (oder ihr menschliches Pendant Diana Prince). Sie selbst besitzt ein Lasso, welches wie ein Lügendetektor wirkt, unter dessen Einfluss die von Wonder Woman eingefangene Person die Wahrheit erzählen muss.
Die geheime Geschichte von Wonder Woman bietet faszinierenden Lesestoff und ist mit einer Vielzahl von seltenen Fotos und charakteristischem Bildmaterial illustriert. Abgerundet wird das Buch durch einen rund 100 Seiten starken Anhang mit Quellenangaben, Fußnoten, Anmerkungen und einem Personenregister.
Solche fundierten, sowohl wissenschaftlich wasserdichten als auch vorzüglich lesbaren Sachbücher zum Comic gibt es nicht so oft. Und schon gar nicht in deutscher Übersetzung. Es sei daher allen empfohlen, die sich für die Geschichte der Neunten Kunst und insbesondere von Superhelden und deren bekanntester Heroine interessieren.
[Matthias Hofmann]
Abbildungen © 2022 DC Comics / C.H. Beck
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