»Die Erschaffung der Welt von Edena soll mir Antworten auf gewisse Fragen liefern, sie ist eine Art Tagebuch.« (Mœbius)
FRISCH GELESEN: Archiv
Sternenwanderer Band 6: »Reparaturen«
Story: Mœbius
Zeichnungen: Mœbius
Schreiber & Leser
Hardcover | 56 Seiten | Farbe | 16,95 €
ISBN 978-3-943808-48-3
Genre: Science Fiction
Für alle, die das mögen: Mœbius, Phantastik, Esoterik, Autorencomics, Bild- und Kunstbände
Seltsame Gestalten schleichen an einer Wand entlang, die futuristischen Waffen bereits im Anschlag. Merkwürdig sehen sie aus: Ihre Köpfe wirken wie Gummibälle, denen man oben und unten eine Art Stift oder Stab hineingesteckt hat. Die großen, pupillenlosen Augen wecken wiederum Assoziationen an Fetisch-Masken, aber auch an Alien-Gesichter, an bizarre Besucher aus dem All. Die knallige Farbgebung gemahnt dagegen an Karnevalskostümierungen. Handelt es sich hier vielleicht um eine Gruppe Amok laufender Zirkusclowns?
Die beschriebene Szene ziert das Titelbild des sechsten Bandes der Sternenwanderer, einer Science-Fiction-Serie von Moebius alias Jean Giraud (1938 – 2012). Und genauso enigmatisch wie das Cover, ist auch die gesamte Serie. Dabei sind die Sternenwanderer mit Band 5 eigentlich abgeschlossen. Aber das Album »Reparaturen«, nun bei Schreiber & Leser nach zehn Jahren erneut erschienen, bietet noch einmal eine Handvoll Kurzgeschichten um Stell und Atan, den beiden Wanderern zwischen den Sternen.
Moebius, wenn er losgelassen ...
Worum geht es bei den Sternenwanderern? Die beiden Raumfahrer Stell und Atan stranden zu Beginn der Serie auf einen fremden Planeten, den sie Dank eines an Bord befindlichen Autos (ein Citroën 15 CV, Baujahr 1938) erkunden können. Schließlich entdecken sie die »Blaue Pyramide«, mit der sie den Planeten wieder verlassen. Kurs: Edena. Auf diesem paradiesischen Gartenplaneten gelandet, geraten die beiden bald in mysteriöse – und sehr verworrene - Abenteuer mit den skurrilen Bewohnern von Edena …
Nein, ein großer Szenarist ist Moebius nie gewesen. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Seine Geschichten sind eher versponnen und assoziativ. Zeitlebens hat sich Moebius am »automatischen Schreiben« der Surrealisten orientiert. Wenn es um nachvollziehbare Storys ging, dann hat er sich – glücklicherweise - an seine biographischen Vaterfiguren gelehnt, vorzugsweise an Jean-Michel Charlier und an Alejandro Jodorowsky. Mit dem konservativen Charlier hat er den Kultwestern Blueberry erschaffen und mit dem exzentrischen, chamäleonhaften Jodorowsky die esoterische Space Opera John Difool. Die Sternenwanderer hat Moebius jedoch allein geschrieben, und spätestens ab Band 3 (»Die Göttin«) fällt es dem Leser wirklich schwer, der Story zu folgen.
Dafür ist die Serie, mehr noch als andere Moebius-Comics, ein Spiegelbild des Künstlers. Der erste Band (»Zu den Sternen« bzw. »Die Blaue Pyramide«) ist 1983 zwar als Auftragsarbeit für Citroën entstanden, Zunächst als Sammlerausgabe mit 650 Exemplaren, zwei Jahre später dann zum Album erweitert, im weiteren Verlauf der Serie lässt Moebius aber mehr als deutlich seine persönlichen Überzeugungen durchscheinen.
Ein Beispiel: In den achtziger Jahren beschäftigte sich Moebius intensiv mit der sogenannten Instinktotherapie. Dabei handelt es sich um eine Heilmethode, die für die Rückkehr zur natürlichen Ernährung plädiert und von dem Arzt Guy Claude Burger entwickelt worden ist. In seinem 1985 erschienenen Buch »La Guerre du Cru« skizziert Burger die ursprünglichen, angeborenen Ernährungsinstinkte des Menschen, die uns normalerweise ganz automatisch das für uns Vernünftige essen lassen. Durch die moderne Ernährungsweise seien uns diese Instinkte jedoch abhanden gekommen, was eine Vielzahl von physischen und psychischen Leiden zur Folge hätte. So weit Burgers Theorie. Tatsächlich ist „Sternenwanderer“ Band 2 (»Die Gärten von Edena«) ein einziges Plädoyer für diese Therapieform: Stell und Atan sind nämlich zunächst androgyne Raumfahrer, die sich nur von synthetischen Lebensmitteln ernähren. Als sie aber auf Edena landen, werden sie zum ersten Mal mit natürlichen Nahrungsmitteln konfrontiert und erlangen so ihre ursprüngliche Geschlechtlichkeit zurück.
Surreal geht über in real und dann wieder zurück.
Band 6 der Serie bietet nun vier Kurzgeschichten, die allesamt um den Sternenwanderer-Kosmos kreisen: »Reparaturen«, 1997 in der letzten Ausgabe von (A SUIVRE) erschienen, »Neapel sehen« aus dem Jahr 1987, »Planet Kehrwieder« von 1990 und eine Serie von Portfolio-Zeichnungen, die 2000 für eine Ausstellung in Neapel entstanden ist (»Sterben und Neapel sehen«).
In der ersten Geschichte trifft Moebius himself – in einer langhaarigen 1970er-Jahre-Version – auf seine Figuren Stell und Atan. Diese Story bietet eher durchschnittliche Moebius-Kost, und auch die daran anschließende Geschichte (»Neapel sehen«) ist noch nicht der Bringer. Ganz anders dann »Planet Kehrwieder«: Diese 23-seitige Geschichte zeigt den Meister in Höchstform und erinnert in manchen Passagen an seine Arzak-Kurzgeschichten. Ebenso die letzte Episode (»Sterben und Neapel sehen«) – hier zeigt sich Moebius gewohnt surrealistisch und bizarr sowie mit einem glasklaren Strich, der alle manieristischen Spielereien, die noch seine John-Difool-Arbeiten durchzogen haben, weit hinter sich lässt.
»Reparaturen« ist ein schöner Moebius-Band und ein gelungener Reiseführer durch das Spätwerk des Meisters.
[Jörg Petersen]
Abbildungen © 2015 Schreiber & Leser
Kauft den Comic im gut sortierten Comicfachhandel: CRON-Händlerverzeichnis