Frisch Gelesen Folge 98: Stadt der drei Heiligen

»Es gibt nur einen Weg, die zur Vernunft zu bringen.«
»Und der wäre?«
»Die Sprache zu sprechen, die sie verstehen.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Stadt der drei Heiligen

Story: Stefano Nardella
Zeichnungen: Vincenzo Bizzarri

Schreiber & Leser
Hardcover | 196 Seiten | Farbe | 29,80 €
ISBN: 978-3-946337-74-4

Genre: Krimi, Komödie

Für alle, die das mögen: Comics von Baru und Gipi, Filme von Quentin Tarantino


 

Ich bin in einer dieser Plattenbausiedlungen aufgewachsen, von der keiner etwas wissen will, außer es geht um soziale Brennpunkte und asoziale Randgruppen. Wir hatten kein Geld, wie alle in unserer Nachbarschaft, und fanden es völlig normal, erhobenen Hauptes einander zu unterstützen, um gemeinsam besser über die Runden zu kommen. Nein, es war keine Idylle. Aber ich bin dankbar, nicht in einer Mittelstandsvorstadt aufgewachsen zu sein, wo die Eltern beim Verlassen des Spielplatzes die Sandförmchen zählen und die fehlenden Stücke gegebenenfalls fremden Kindern aus den Händen reißen, so wie man es in dem Viertel macht, in dem ich jetzt lebe.

Vielleicht bin ich deswegen anfällig für Unterschichtromantik, wie sie auch Stefano Nardella und Vincenzo Bizzarri in Stadt der drei Heiligen verbreiten. Wobei in ihrer süditalienischen Kleinstadt nicht nur die Plattenbauten weitgehend fehlen, sondern auch das gemütliche Miteinander. Im Gegenteil: Die Unterschicht, in der zumindest in diesem Buch jeder auf die eine oder andere Art mit der Mafia verbunden ist, besteht hier vor allem aus Kleinkriminellen, Dealern und Drogenabhängigen, die sich die ganze Zeit gegenseitig an die Gurgel gehen, und zwar durchaus im Wortsinne.


Treffen sich zwei Arschlöcher, ist die Frage natürlich: Wer hat den Größten?

Man kann sich vorstellen, wie das Gerangel seit Jahrzehnten abläuft, überwacht von den Patriarchen der Mafia und der katholischen Kirche, und natürlich eskaliert es ab und zu, diesmal in den Tagen vor einer Prozession für die drei Schutzheiligen der Stadt. Dafür verantwortlich sind ein drogensüchtiger Schläger, der sich durch die Welt boxt, ein Mafia-Aussteiger, der einen Imbiss betreibt, ein Mafia-Handlanger, der seine Härte beweisen will, und ein Nachwuchs-Gangster, der Anerkennung sucht. Am Rande gibt es auch noch einen Idioten, der eine Giraffe aus einem Zirkus entführt hat.


In den Charts der blöden Ideen ganz weit oben: Giraffenentführung.

Weil es ein kleiner Ort ist, kommen sich die Protagonisten permanent in die Quere, und schon bald ist klar, dass es zu einem haarsträubenden Showdown kommen wird, bei dem sich die verschiedenen Pläne und Fertigkeiten der Protagonisten wie in einem großen Eisenbahnunglück des frühen 20. Jahrhunderts untrennbar verkeilen werden.

Die absurde menschliche Kybernetik, die sich dabei entfaltet, wird wirklich hübsch erzählt. Und gerade weil man nicht weiß, wie am Ende das Desaster seinen Lauf nehmen wird, freut man sich die ganze Zeit auf den großen Knall.

Ebenso konsequent ist die grafische Umsetzung: Die Figuren eiern auf ihren sinnlosen Wegen durch elende Gassen, flankiert von maroden Flachbauten, und schmale Straßen, die null zu den Protzautos der Mafia passen, von den Ansprüchen der großen Herren ganz zu schweigen – sie sind eben bloß Könige des Drecks. Zudem ist das ganze Buch in fiesen Gelb-, Grün- und Grautönen gehalten, was das Elend bestens verstärkt. Alles ist so überrissen hoffnungslos, so völlig grotesk, dass ich die ganze Zeit vor mich hin grinsen musste.

Eine fiese Krähe fliegt über fiese Figuren und fiese Gassen in fiesen Farben. Fies!

Mich hat die absurde Konstruktion an Quentin Tarantinos Filme erinnert, die fast immer unterhaltsam sind, in der Regel allerdings eine Schwäche haben: Sie gehen nur selten über Klischees hinaus. Dasselbe gilt leider auch für dieses Buch. Die Figuren sind alle, wie es im Englischen so schön heißt, cutout cardboard characters, Aufstellpuppen, wie man sie früher auf der Rückseite von Cornflakes-Packungen fand. Das hilft zwar enorm der Kybernetik, begrenzt aber leider arg deren Ergebnis.

Das unterscheidet das Buch von Werken von Gipi (5 Songs) oder Baru (Wut im Bauch), die ihren Protagonisten trotz all ihrer Unzulänglichkeiten ein Herz und eine Seele zugestehen, Einfallsreichtum und letztlich gar die Fähigkeit, eingefahrene Wege zu verlassen. So etwas kann für Überraschungen sorgen, manchmal sogar für das Ausbleiben des Showdowns zugunsten eines Abschieds in eine bessere Welt. Aber für so viel Hoffnung braucht es wohl etwas, das diesem Band leider völlig fehlt: die Liebe zur Unterschicht.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2018 Schreiber & Leser


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