Frisch Gelesen Folge 206: Märchen aus dem Ermland

Ein Jüngling zieht in die weite Welt: Panel aus den Märchen aus dem Ermland.

»Keine Angst, mir wird nichts passieren, denn ich wurde mit einem silbernen Löffel geboren.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Märchen aus dem ErmlandDas Titelbild der Märchensammlung.

Story: Marcin Wakar
Zeichnungen: Jaroslaw Gach

Insektenhaus Verlag
Hardcover | 64 Seiten | Farbe | 16,80 €
ISBN: 9783948800116

Genre: historische Märchen

Für alle, die das mögen: vergessenes Kulturgut, Fantasy



Wer kennt es nicht, das wundervolle Ermland! Ok, ich gebe es zu – ich kannte es vor der Lektüre dieses Comics auch nicht. Regional befand sich das Ermland im heutigen Verwaltungsbezirk, der wohl den meisten von uns nur als Masuren bekannt ist, korrekterweise jedoch Ermland-Masuren heißt. Ursprünglich war das Ermland Siedlungsgebiet der Prußen, einem nicht mehr existenten baltischen Volksstamm, der durch Assimilierung in der heutigen polnischen und auch deutschen Bevölkerung aufgegangen ist. Von 1243 bis 1772 war das Ermland durch die Eroberung durch den Deutschen Orden ein Bistum des Deutschordenstaats, um danach ein Teil des Königreichs Preußen zu werden. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Region Polen zugesprochen. Die Eigenheit dieser Region, neben ihrer überwältigenden Natur, ist die Tatsache, dass das fast vergessene, in der heutigen Gesellschaft versunkene Volk der Prußen seine Spuren hinterlassen hat. Vieles ist nur fragmentarisch bekannt; so zum Beispiel über ihren Glauben, bevor sie die Christianisierung überrannte. Wie in den meisten Regionen Mitteleuropas handelte es sich um einen Vielgötterglauben, in dem die Verehrung der Natur und deren Schutz durch Tabuisierung eine zentrale Rolle spielt. So gab es heilige Flüsse und Wälder, in denen magische Dinge geschahen.

Solche Wurzeln finden sich immer in der wohl ältesten Erzählform, die viele Kulturen kennen – dem Märchen. Wir in Deutschland sind stark geprägt durch die Gebrüder Grimm und ihre durch den damaligen Zeitgeist geprägte Verschriftlichung der geläufigen Märchen. Wie inzwischen gut belegt haben sie ihre Märchen nicht von einem alten Weiblein, die an einem Kaminfeuer saß, erzählt bekommen, obwohl sie stets versucht haben, diesen Mythos aufrecht zu erhalten. Und viele Historiker und Literaturwissenschaftler nach ihnen sind gerne dieser romantischen Vorstellung gefolgt. Vielmehr waren es wohl eher junge bürgerliche Frauen, die u. a. bereits die französische Märchensammlung von Charles Perrault kannten. Schaut man sich dessen Versionen von z. B. Dornröschen an, fällt auf, wie viel roher und kantiger sie sind. Oftmals in ihrer Erzählweise sperriger, gewalttätiger und mit überraschenderen Wendungen.

Eine Leseprobe aus den Märchen aus dem Ermland.
Die in Sepiatönen gehaltenen Zeichnungen erzeugen ein anheimelndes Gefühl.


Gleiches gilt auch für die drei Märchen, die uns in Märchen aus dem Ermland präsentiert werden. Sie wirken in ihrer Erzählweise rauer und ursprünglicher. Der typische Handlungsbogen eines Märchens ist trotzdem klar zu erkennen. Es gibt einen Helden, der in eine Krise geschleudert wird, diese meistern muss, um am Schluss gestärkt daraus hervorzugehen. Mit Frauen wird nicht gerade zimperlich umgegangen, die Helden nehmen sich einfach, wen sie wollen. Selbst wenn die Frauen über magische Fähigkeiten verfügen, haben sie keine Macht über Männer, sie sind ihnen schutzlos ausgeliefert. Die Helden müssen gegen Naturgewalten und mystische Kräfte kämpfen, denen sie mit List und Geschick trotzen. Am Ende sind aber selbstverständlich alle glücklich und zufrieden.

Zusammengetragen hat diese Märchen Marcin Wakar, der viele Jahre an der Warschauer Universität als Historiker angestellt war. Leider ließ sich nichts über seinen Auswahlprozess in Erfahrung bringen oder darüber, aus welcher Quelle er die Märchen bezieht. Von seinem Hintergrund lässt sich aber darauf schließen, dass es sich höchstwahrscheinlich um tatsächliche alte, tradierte Märchen der Region handelt. Besonders im Hinblick auf den sehr gewaltsamen Umgang mit Frauen wäre hier eine kritische Auseinandersetzung mit der Werktreue der Geschichten, soweit man den Ausdruck werktreu bei Märchen verwenden kann, vonnöten gewesen.

Eine Leseprobe aus den Märchen aus dem Ermland.
Jünglinge sind hübsch und naiv, die Alten hässlich und verwarzt – hier ist die Welt noch, wie sie sein soll.


Die Zeichnungen von Jaroslaw Gach sind einerseits geprägt von einem klassischen westlichen Comicstil, die mich in Zügen an Klassiker wie Prinz Eisenherz erinnern. Die archaischen Erzählungen werden grafisch gut umgesetzt durch anmutige Naturdarstellungen, Helden und Heldinnen, die ebenso klischeehaft wunderschön und strahlend sind, wie die Schurken warzenbesetzt und hässlich. Die Farbgebung, die stark in braunen, blauen und grünen Tönen gehalten ist, unterstreicht die Naturverbundenheit und Ursprünglichkeit der Märchen. Zwar kippen besonders die Darstellungen der Protagonisten fast schon ins Kitschige, aber es passt durchaus zu Märchen, die ja allesamt spätestens beim plötzlichen Happy End auch sehr schmalzig sind.

Die drei Märchen aus dem Ermland lassen uns eintauchen in eine längst vergangene Zeit, die eigentlich vor unserer Haustür liegt und uns doch so fern und fremd vorkommt. Der Comic ist eine kurzweilige Lektüre, die Sehnsucht nach der Vergangenheit weckt. Ich persönlich hätte mir noch mehr Hintergrundinformationen zur Auswahl der Märchen gewünscht, aber da spricht wohl die Literaturwissenschaftlerin aus mir.

Ein kleiner Tipp am Rande: Ich habe zu der Lektüre Musik der Warsaw Village Band gehört, eine polnische Folk-Gruppe, die eine wunderbare akustische Abrundung zu dem Leseerlebnis bieten kann.

[Mechthild Wiesner]

Abbildungen © 2020 Insektenhaus Verlag / Marcin Wakar, Jaroslaw Gach


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Oder beim Verlag: Insektenhaus Verlag