Frisch Gelesen Folge 217: Mögliche Geschichten

»Es gab kein Kaminfeuer im Diogenes. Auch keine Polstersessel. Aber Geschichten, die erzählt wurden.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Mögliche Geschichten

Story: Neil Gaiman
Zeichnungen: Mark Buckingham

Dantes Verlag
HC | 84 Seiten | Farbe | 20,00 €
ISBN: 978-3-946952-64-0

Genre: Horror, Fantasy

Für alle, die das mögen: Wally Wood, EC, Sandman



Eigentlich ist es immer wie eine kleine Wundertüte, wenn man ein Buch oder einen Comic von Autor Neil Gaiman in die Hände nimmt. Man weiß so ungefähr, was einen erwartet und trotzdem wird man ein ums andere Mal doch wieder überrascht – aber nie wirklich enttäuscht. Angekündigt als subtiler Horror der Spitzenklasse – auf die feine englische Art –, sollte man dann natürlich keinen Slasher oder Splatter erwarten, und wer so an Mögliche Geschichten herangeht – so viel sei jetzt schon verraten –, der wird auch nicht enttäuscht, denn subtil stimmt wirklich. Unterschwellig und hintergründig sind die vier Geschichten, die in diesem Band zusammengefasst wurden – nur von einer für die Geschichten eher unbedeutenden Klammer zusammengehalten. Diese Klammer bildet der Club Diogenes, eigentlich eine eher heruntergekommen Bar, der durch den Club-Status die gängigen Schankgesetze in London ganz einfach ausgehebelt hat.


Simon Powers denkt darüber nach, welche Krankheiten er sich eingefangen haben könnte.


Simon Powers, ein Mann, der seine sexuellen Gelüste für sich selbst behielt, keine Freunde hatte, nie verreiste und sich plötzlich von Grund auf veränderte, kommt erst nach seiner Verwandlung in die Bar. Eddie Barrow, ursprünglicher Frauenschwarm, kommt als menschliches Wrack und erzählt die Erlebnisse der vergangenen zehn Jahre, in denen er als Untermieter gemeinsam mit der greisen Miss Corvier und der Hauskatze im Obergeschoss eines alten Hauses hinter der Prince Regent Street gewohnt hat. Während er sichtlich gealtert und zusammengesunken ist, wird er von einer bildhübschen Frau aus der Bar abgeholt. Auch ein Fotograf kommt, um seine Lebensgeschichte zu erzählen – angefangen mit dem ersten Penthouse-Heft, mit dem er sich unsterblich in die neunzehnjährige Charlotte verliebte. Charlotte wird ihn sein Leben lang verfolgen, und während er normal altert, sein Leben verrinnt, trifft er immer wieder auf Charlotte, die keinen Tag älter zu werden scheint. Viel mehr darf man an dieser Stelle tatsächlich auch nicht erzählen, das wäre dann doch gespoilert.


Die 19-jährige Charlotte wird einfach nicht älter.


Mögliche Geschichten
sind keine Comics, die man beim Fernsehen oder mal so zwischendurch lesen kann oder sollte. Die Geschichten lassen einfach viel Raum für die eigene Fantasie, die sich im Lauf der Seiten zunehmend und unweigerlich aufbaut, aber dann plötzlich mit ihrem Ende sehr viele offene Fragen zurücklässt. Ein krasser Gegensatz zu den dann doch eher altmodischen Horrorgeschichten von Wally Wood, die ja durchaus zum Teil auch subtil anfangen und dann mit einem Knalleffekt enden.

Dass gute Freunde zu mehr als einem Trauzeugen taugen, beweist einmal mehr Mark Buckingham. Seine grafische Bandbreite ist einfach unglaublich. Der Mann kann Batman (z. B. Auf dem Weg ins Niemandsland), Fabels und natürlich Sandman, kann so ein bisschen wie Steve Dillon – vor allem wenn er den Club und seine Besitzerin darstellt – und kann eben auch Geschichten in kleinteiligen Panels mit wenigen Details (und sehr viel Text) Szene für Szene glaubhaft zeichnen.


Zeichner Mark Buckingham kann die Geschichten auch kleinteilig glaubhaft in Szene setzen.


Schön, dass der Dantes Verlag mit Mögliche Geschichten, die zwei Ausnahmetalente der Comicszene vereinen, auch weiter auf Geschichten aus der Feder von Neil Gaiman setzt. Nach Eine Studie in Smaragdgrün liegt damit schon der zweite Band in einer ansprechenden Hardcover-Ausgabe vor – und weitere sollen noch in diesem Jahr folgen. Ergänzt um einige Skizzen und ein (wiederum) launiges Glossar lässt Mögliche Geschichten kaum Wünsche offen.

[Stephan Schunck]

Cover: © 2020 Dantes Verlag und Neil Gaiman; Illu. Mark Buckingham
Seiten: © 2020 Dantes Verlag und Neil Gaiman; Szen. Neil Gaiman/Mark Buckingham; Illu. Mark Buckingham


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