Frisch Gelesen Folge 292: Virus Tropical

»Es war furchtbar! Sie haben mich für meinen Akzent gehänselt, für meinen Nonnenrock und als ich Tafel gesagt habe, haben alle gelacht, Und ein Junge fragte, ob es in Ecuador auch Zahnärzte gibt, und als ich ja sagte, hat er mich ausgelacht und ich kapierte überhaupt nichts.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Virus Tropical

Text: Powerpaola
Zeichnungen: Powerpaola

Parallelallee
Softcover | 164 Seiten | s/w | 19,00 €
ISBN 978-3-9816235-3-6

Genre: autobiografische Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Dirty Plotte, Der Ursprung der Welt, The Artist



Ich würde Virus Tropical gerne gut finden, weil

  1. die Autorin Powerpaola aus Ecuador stammt und in Argentinien lebt, die Graphic Novel also eine der raren Alternativen zu frankobelgischen und US-Produktionen ist,
  2. der Comic im ersten Programm des neuen Berliner Verlags Parallelallee erschienen ist, der sich auf spanisch- und portugiesischsprachige Comics spezialisieren will, und ich es im Prinzip wichtig finde, gerade Verlage mit ambitionierten Plänen zu unterstützen,
  3. eine der Verlegerinnen im aktuellen ALFONZ erzählt, dass das Buch ein Herzensprojekt sei, und das ist doch das, worum es im Leben geht: Herzensprojekte verwirklichen,
  4. für die Künstlerin diese Autobiografie ihrer ersten Lebensjahre wahrscheinlich sehr wichtig war und sie möglicherweise sogar andere junge Leserinnen zu einem neuen Blick auf ihr Leben animieren könnte, denn
  5. ich bin nicht die Kernzielgruppe und
  6. hasse ich es außerdem, ausführlich zu erzählen, warum ich etwas nicht gut finde, weil mich das Lebenszeit kostet, die ich mit Dingen (oder Menschen, noch besser!) verbringen könnte, die ich gut finde,

aber ich habe dieses Buch gelesen und dann etwas liegen gelassen, habe es dann noch mal gelesen, weil ich dachte, es sei beim zweiten Mal vielleicht besser, und schaffe es trotzdem nicht: Ich kann es einfach nicht gut finden!

 

Meine Probleme beginnen bereits auf den ersten Seiten, denn schlimm ist es, ein Opfer zu sein, aber viel schlimmer finde ich es, sich zum Opfer zu machen. Powerpaola erledigt das noch vor ihrer Geburt: Ihre Mutter wird schwanger, obwohl ihre Eileiter abgeschnürt sind, weil sie nicht noch ein Kind oder besser gesagt, nicht noch eine Tochter will. So wird ihr dicker Bauch anfangs als Zeichen eines »Virus Tropical« interpretiert, als Krankheitssymptom. Ungewolltes Kind, das, wenn es schon unbedingt geboren werden muss, ein Junge hätte werden sollen und dann auch noch als Virus betrachtet wird – das ist kacke! Aber warum heißt das Buch dann Virus Tropical? Was ist das? Ironie? Oder Identifikation mit dem Aggressor? Für mich klingt das nach: Ich bin ein Opfer – und das schreibe ich schon mal in den Titel.

Nein, es ist wahrscheinlich nicht so gemeint. Aber das ist mein erstes Problem: Das Buch ist eher wenig durchdacht. Was direkt zu meinem zweiten Problem führt: Es wimmelt nur so von Klischees. Gleich bei der Geburt spritzt das Blut, was in vermeintlich realistischen Comics inzwischen Standard ist, soll doch damit dargestellt werden, dass eine Geburt eine krasse physische Erfahrung ist – und zwar eine weibliche. Stimmt. Nur: Es gibt auch Frauen, die nicht gebären, möglicherweise nicht gebären wollen, was sie nicht weniger weiblich macht. Aber die, geht ein gerne genutztes Argument, haben zumindest ihre Tage, wo auch wieder Blut fließt, und selbstverständlich ist das bei Powerpaola nicht anders.

 

Was mich zu meinem dritten Problem bringt: Julie Doucet. In ihren frühen Geschichten gibt es ähnliche Panel – nur war das damals kein Klischee. Powerpaola nennt die Kanadierin als Vorbild, und tatsächlich ist das in ihrem Stil unübersehbar: Ihr Tuschestrich ist eher zart, aber die Bilder sind voller schraffierter oder auch mal gepunkteter Hintergründe, was trotz der vor allem zu Anfang etwas unbeholfen wirkenden Zeichnungen einen recht realistischen Eindruck hinterlässt. Das könnte für sich genommen so stehen, aber wer ein Vorbild vor sich herträgt, muss sich daran messen lassen, und da sind Julie Doucets übervolle, fast manisch detaillierte Panels nicht nur viel interessanter, sie ziehen mit ihren unzähligen surrealen Details auch eine unkommentierte, letztlich nicht erklärbare zweite Erzählebene ein, die den an sich banalen Alltagsgeschichten eine besondere Aura verleiht.

Für Powerpaola gilt leider genau das Gegenteil: Ihre Geschichten sind gar nicht so banal, da gibt es sogar mal eine Schießerei in einem Viertel, in dem viele Drogenhändler rumhängen. Außerdem verlässt der Vater recht bald die Familie, sodass die Mutter und ihre Töchter eine reine Frauengemeinschaft bilden, was eigentlich interessant sein müsste. Aber alles wird so öde erzählt: Die älteste Schwester zieht weg und wird schwanger, das Hausmädchen klaut, der erste Kuss, der erste Sex – das Leben zieht vorüber wie die Landschaft an einem Regionalexpress. Nein, nicht ICE, das würde zumindest Tempo bedeuten. Aber dafür ist das Buch einfach zu zäh.

 

Virus Tropical ist ein Erstlingswerk mit großen Schwächen, was keine Schande ist: Julie Doucets frühe Minicomics sahen ebenfalls nicht sonderlich gut aus, auch Liv Strömquist hat nicht ganz oben angefangen. Die Schwedin hatte allerdings von Anfang an etwas zu sagen, und das ist mein letztes Problem mit Virus Tropical: Ich habe keine Idee, was mir der Comic sagen soll. Meine Jugend war schwierig? Da reiht er sich in die lange Schlange der leidvollen Mittelschichtbiografien ein, in denen es um das Elend im meist überschaubaren Wohlstand geht, »Wir kommen, um uns zu beschweren«, um Unzufriedenheit in erstaunlich behüteten Verhältnissen, die irgendwie nicht abenteuerlich genug sind oder nicht cool genug oder nicht ausreichend exotisch. Meine Tochter hat mich kürzlich gefragt, warum wir keine Albaner sind. Ja, genau.

Als Nächstes wird bei uns von Powerpaola ihr aktuelles Buch erscheinen, das zeitgleich in fünf Ländern veröffentlicht wird. Ich bin gespannt. Aber es erinnert mich auch daran, dass Feminismus nicht zuletzt ein Geschäftsmodell ist und dass es neben Liv Strömquist genug Platz für eine weitere feministische Comic-Ikone gibt. Ich verstehe das, ein ambitioniertes Buchprogramm muss schließlich von irgendwas finanziert werden. Aber es ist eben alles sehr banal.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2022 Parallelallee / Powerpaola


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Oder beim Verlag: Parallelallee