Frisch Gelesen Folge 362: Seek You

»Vielleicht sehen wir Einsamkeit in anderen, um uns selbst weniger einsam zu fühlen.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Seek You. Eine Reise in die Einsamkeit

Story: Kristen Radtke
Zeichnungen: Kristen Radtke

Helvetiq
Hardcover | 352 Seiten | Farbe | 29,90 €
ISBN:  978-3-03964-023-2

Genre: Essay

Für alle, die das mögen: Chris Ware, Liv Strömquist, R. Kikuo Johnson


 

Wer braucht Antworten, wenn er Fragen haben kann? US-Zeichnerin Kristen Radtke erkundet mit Seek You. Eine Reise in die Einsamkeit ein großes Problem der westlichen Welt. Auf über 350 Seiten umkreist sie die Einsamkeit, greift Aspekte heraus, hängt Gedanken nach, spricht mit Fachleuten, beleuchtet die jüngere Geschichte. Und genau dies macht den Comic der 36-Jährigen zu einem herausragenden Essay.

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Radtke dreht und wendet die Einsamkeit in diesem Band. Es geht um ihren Vater, der sich seiner Familie nie öffnete. Es geht um aufgenommenes Lachen für US-Sitcoms und wie es unseren Humor prägt, wenn wir in der Dunkelheit allein auf dem Sofa sitzen und jede Pointe davon unterstrichen wird. Es geht um soziale Medien und Amokläufer. Wie bei so vielen Sachcomics trägt der Text die Fakten – doch bei Radtke verkommen die Bilder nicht zu bloßen Illustrationen.

Sie berichtet von ihrem eigenen Gefühl der Einsamkeit, wie es sich anfühlt, als würde man im Wasser strampeln und untergehen. In genau diesen Momenten übernehmen ihre Zeichnungen das Ruder, Emotion löst Fakt ab. Das passiert – zugegeben – nicht oft, ist aber genau deswegen umso wirkungsvoller. Lesen ist eine einsame Tätigkeit, was bei der Lektüre von Seek You nur zu bewusst wird. Aber es geht Radtke nicht um Probleme, sie moralisiert nicht, sie stellt nicht einmal fest. Sie denkt einfach nach und hat aus diesem Nachdenken einen Comic gemacht.

Ihr Zeichenstil erinnert an Künstler wie Chris Ware und R. Kikuo Johnson, wobei Radtke in ihren Bildern distanzierter erzählt. Am Ende geht sie auf die Experimente von Harry Harlow ein, der Affenbabys ihren Müttern entriss und in Käfige mit Drahtkonstruktionen zum Kuscheln und Füttern sperrte. Radtke montiert dazu parallel das Leben des Wissenschaftlers, der selbst eine tragische Figur des 20. Jahrhunderts wurde. Doch sie emotionalisiert nicht, pathologisiert nicht, sondern Radtke zeigt, dass sie eine unfassbar souveräne Erzählerin ist.

Keine Farbe lenkt von der Mimik der Figuren ab, ein Graubraun bestimmt die Atmosphäre. Wenn Harlow seine zweite Frau verliert, wenn die Affenbabys stets grausameren Experimenten ausgesetzt sind, verstören diese Seiten genauso, wie sie es müssen. Wenn am Ende gelbes Licht ins Labor fällt und die Affen im Schatten versinken, wenn auf der anderen Seite ein kleines Kind mit eben jener Drahtkonstruktion kuschelt, die als Mutterersatz für die Affen diente, könnte es kaum beunruhigender sein.

In den USA erschien der Comic bereits vor zwei Jahren – und klar, Radtkes Schreibstil und Erzählen tragen den starken Einfluss großer US-Reportage-Magazine in sich, des New Yorker und The Atlantic. Sie zeichnet genau nach, wie uns die Einsamkeit betrifft, selbst wenn wir uns nicht einsam fühlen, nimmt ihre eigene Geschichte auf, zeigt, was das Universelle an diesem Thema ist. Nach der letzten Seite stehen wir mit mehr Fragen da, keine Antworten, alles offen, aber das können nur gute, herausragende Essays, egal, ob gezeichnet oder nicht. Und bei Radtke kommt hinzu: Wer Seek You zuschlägt, bleibt mit dem Gefühl zurück, ein klein wenig weniger einsam als davor zu sein.

[Björn Bischoff]

Abbildungen © 2023 Helvetiq / Kristen Radtke


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