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Ich bezahle für Sex

Chester Brown macht einen Termin

Reißerischer geht's kaum: »Ich bezahle für Sex«. Okay, nicht ich. Ich bin verheiratet, habe keinen Notstand und war noch nie in der Situation, für Sex bezahlen zu müssen. Anders sieht es jedoch aus bei Chester Brown, dessen neuste autobiografische Graphic Novel schonungslos offenlegt, was er über Prostitution denkt und vor allem: was er bezahlt, zu welchen Nutten er geht und welche Stellungen er praktiziert.

Ich bezahle für SexICON-Rezensionen
Aufzeichnungen eines Freiers: Chester Brown findet Prostitution okay

VON MATTHIAS HOFMANN

Ich bezahle für Sex TitelbildMan stelle sich dies einmal vor: eine Welt, in der es ganz normal ist, für Sex zu bezahlen. Vögeln als völlig normale Dienstleistung. Der Single von morgen geht einkaufen und tanken, weil er und sein Auto dringend Nachschub benötigen. Abends geht er vielleicht mit zwei Kumpels schön Essen und danach ins Kino, um seinen Bedarf an Nahrung und Kultur zu befriedigen. Oder alle drei gehen gemeinsam ins Puff, wenn's die körperlichen Triebe fordern und es etwas mehr kosten darf. Alles völlig normal, oder? Natürlich nicht, denn für bezahlten Sex gilt das Gleiche wie für Geld: Man redet nicht drüber, man hat es, bzw. man tut es. Aber am besten tut man es nicht, denn »Herumhuren« ist gesellschaftlich stigmatisiert.

Chester Brown, der schon mit seinem Die Playboy-Stories eindrucksvoll zeigte, wie man seine sexuellen Triebe und Neigungen öffentlich macht, ist der Meinung, dass das Prinzip der »romantischen Liebe« für ihn nicht praktikabel ist. Auslöser ist seine Freundin, die plötzlich meint: »Wir müssen reden«. Und ergänzt, man ahnt es schon: »Ich bin sicher, ich werde dich immer lieben, aber … ich glaube, ich verliebe mich soeben auch noch in jemand anderen.« Und so trifft sie Justin, den Drummer ihrer Band. Und Chester macht dies nichts aus, selbst als der neue Partner in die gemeinsame Wohnung zieht, lässt er den Dingen ihren Lauf. Doch irgendwann wird es ihm zu bunt und er zieht in eine andere Wohnung.

Er beschließt, dass er keine Partnerschaften braucht. Der Kalender zeigt März 1999. Als knapp Vierzigjähriger mit Halbglatze und unscheinbarem Aussehen ist er nicht der Typ für One-Night-Stands. Aber ganz auf Sex verzichten will er auch nicht, also nimmt er all seinen Mut zusammen und geht zu Prostituierten. Über seine Erfahrungen führt er genaue Aufzeichnungen und gibt sie schließlich in Form eines Comics an die Welt weiter.

Chester sagt »Ja« zur Prostitution

Mehr als 20 Prostituierte hat Chester Brown besucht. Als Rookie ohne Auto in Toronto lebend, radelt er ins Puff. Seine ersten Versuche der telefonischen Kontaktaufnahme haben etwas Grundehrliches und schonungslos Offenes. Wie viel Geld nimmt man mit? Er steckt 200 Dollar ein. Was ist, wenn er ausgeraubt wird? Vorsichtshalber lässt er die Brieftasche zu Hause und steckt das Geld einfach in die Hosentasche. Wie sehen die Nutten wohl aus? Er steht eher auf Jüngere. Was ist, wenn sie ihn anlügen und älter sind?

Ich bezahle für Sex Seite 43Seine erste Liebesdienerin heißt Carla. »Möchtest du mit einer Massage beginnen?« fragt sie ihn. »Nein.« Darauf Carla: »Okay, was möchtest du gern machen?« Beide sitzen angezogen auf dem Bett als Chester antwortet: »Äh, ich … ich möchte Geschlechtsverkehr mit dir.« Als sie ihm ein Kondom überzieht und mit Oralsex beginnt, denkt er: »Es geschieht wirklich.« Als er das Bordell verlässt fühlt er sich beschwingt und verändert. Es ist »so ehrlich … offen … ganz … natürlich«. Eine Last, die er seit seiner Jugend herumtrug, ist abgefallen.

Chester Browns Graphic Novel ist ein Plädoyer für die Liberalisierung von bezahltem Sex. Er sieht sich als guter Freier, der die Huren respektiert. Gewalt würde er nie anwenden. Das kennt er zwar vom Hören-Sagen und aus den Medien, aber es scheint fast so, als ob prügelnde Zuhälter, drogenabhängige Nutten und minderjährige Sexsklavinnen für ihn in den Bereich der »urbanen Legenden« gehören.

Ich bezahle für Sex Seite 113Weil er so edel ist, hat er bei seinen Beschreibungen auf alles verzichtet, was die Identität seiner Sexpartnerinnen möglicherweise enthüllen würde. Schließlich könnte irgendeine befreundete Person, ein Familienmitglied, ein Liebhaber oder eine Bekanntschaft der Frauen Browns Buch lesen. Dies erklärt er in seinem Vorwort zu Ich bezahle für Sex. Dort schreibt er, dass er nur banale Details wiedergegeben hat, was er aber schade findet, denn er empfand echte Zuneigung für viele dieser Frauen und »hätte es wirklich gerne gehabt, wenn dieses Buch ihre Persönlichkeiten besser hätte darstellen können«.

So zeichnet er beispielsweise ihre Gesichter nicht. Die Köpfe sind stets abgeschnitten oder von Sprechblasen verdeckt oder man sieht sie von hinten. Auf der einen Seite schützt Brown so ihre individuellen Identitäten, auf der anderen Seite reduziert er sie damit erst recht zu einer Art austauschbarem Objekt ohne eigenen Geist. Wer A sagt, muss auch B sagen. Stattdessen nimmt Brown den leichtesten Ausweg und zieht sich auf das Schutzargument zurück.

Letztlich weiß Brown sehr wohl was er will und auf welchen Frauentyp er steht. Er wechselt immer wieder die Prostituierten, informiert sich zuvor gründlich im Internet auf einer Webseite, welche Torontos Bordelle, Escort-Services und deren Callgirls bewertet. Er selbst schreibt auch schon mal eine schlechte Bewertung, wenn er es für angebracht empfindet.

Haufenweise Erklärungen

Chester Brown lässt es sich nicht nehmen, den Comic Seite um Seite mit Erklärungen und mit zusätzlichen Texten anzureichern. Zum Auftakt gibt es gleich zwei Vorworte: eines von ihm selbst und eines von Robert Crumb (»Chester Brown stammt nicht von diesem Planeten.«), die den Leser vorbereiten sollen.

Ich bezahle für Sex Seite 188Hat man alle 33 Kapitel und damit 227 Seiten der Graphic Novel gelesen, kommt es aber ganz dick. Dem Nachwort des Künstlers schließen sich »Anmerkungen zum Buchtitel« an, danach folgen jede Menge Anhänge: 22 Kapitel über Themen wie »Sexuelle Rechte«, »Ehe«, »Gewalt« oder »Lizensierung und Arbeiten zu Hause«, dazu Anmerkungen des Zeichner-Kollegen Seth, der zusammen mit Joe Matt als reale Figur in dem Buch vorkommt, sowie unzählige Anmerkungen zu speziellen Szenen aus dem Comic und noch weitere Fußnoten. Das macht summa summarum rund 100 (!) Seiten zusätzliche Texte. Holla!

Vieles davon liest sich durchaus interessant und innerhalb Browns eigener Welt auch schlüssig. Brown selbst ist kein Selbstdarsteller im eigentlichen, selbstverliebten Sinn, aber er stellt sich und seine sexuellen Aktivitäten schonungslos dar. Aber nur den »nackten« Comic zu veröffentlichen war ihm zu wenig. Das ist ein Indiz dafür, dass seine Aufzeichnungen eines Freiers nicht für sich selbst stehen können, zumindest aber dafür, dass er Angst davor hat, seine Ansichten könnten missinterpretiert werden.

Wie er den Comic erzählt - und wie er ihn zeichnet - ist auf höchst mögliche Neutralität gemünzt. Sein Gesicht ist wie eine Maske. Emotionen sind nicht zu sehen. »Sein Gesichtsausdruck während des gesamten Buches ist immer derselbe. Sein Mund ist ein Schlitz. Er zeigt nie seine Zähne, er grinst nie, schneidet keine Grimassen. Das Gegenteil von dem, wie ich mich darstelle«, schreibt Robert Crumb in seinem Vorwort. Auch die Darstellung von Sex, die durchaus expliziert ist, wird keinen Leser antörnen. Die Zeichnungen an sich sind sehr reduziert. Die Seitenaufteilung folgt einem konservativen Acht-Panel-Muster, die Hintergründe sind extrem spartanisch ausgearbeitet.

Mit dem Arsch eingerissen

Sex ist wichtig. Für einige ist Sexualität sogar sehr wichtig. Und für manche gehört Sex zu Grundbedürfnissen, wie Atmung, Schlaf, Nahrung, Wärme, Gesundheit, Wohnraum, Kleidung und Bewegung.

Nachdem seine vorigen Comics alle in Fortsetzungen veröffentlicht wurden, u.a. in Yummy Fur, ist Ich bezahle für Sex Browns erste Veröffentlichung, die direkt als Buch publiziert wurde. Alles andere als überraschend, wurde das Buch in Nordamerika ziemlich kontrovers aufgenommen. Sex tut gut. Sex sells. Das weiß auch Chester Brown. Das Wort »Sex« kommt jedoch im Originaltitel gar nicht vor, denn der heißt »Paying for it«.

 

Ich bezahle für Sex Szene aus dem Anhang

Eine von zahlreichen Rechtfertigungen im Anhang

 

Dieser Titel bemüßigte Brown zu zwei Seiten »Anmerkungen zum Buchtitel«. Er schreibt: »Ich mag den Titel nicht – er impliziert einen Doppelsinn. Er suggeriert, dass ich nicht nur für Sex bezahle, sondern dass ich auch im übertragenen Sinn dafür »zahlen« muss, ein Freier zu sein«. Ganz im Gegenteil sei er ein glücklicher, »freier« Freier gewesen. Dennoch hat er den Titel, den sein Originalverlag Drawn & Quarterly vorgeschlagen hat, akzeptiert, denn er war sich bewusst, »dass sich dieses Buch schwer vermarkten lässt«. Der Schweizer Verlag Walde + Graf ging mit seiner deutschsprachigen Ausgabe noch weiter. Er hängte das explizite Wörtchen »Sex« an, um dem Titel, der in Kanada eine Startauflage von 20.000 Exemplaren hatte, auch hierzulande ein Maximum an Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Chester Browns Ich bezahle für Sex ist absolut faszinierender Lesestoff. Egal, wie man zum Thema Prostitution steht, ist es in der Tat ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legt, wenn man mit dem Lesen begonnen hat, und bei dem der reißerische Spruch auf dem Klappentext ausnahmsweise sogar stimmt. Der eigenwillige Zeichenstil, der manches Dargestellte erträglich macht, erweist sich recht schnell als passend. Browns Erzählstil ist nicht durch die Bank nüchtern, sondern durchaus durchsetzt von Humor, besonders, wenn es um die Analysen seiner Freunde Seth und Joe Matt geht, mit denen er sich immer wieder trifft und seine Erlebnisse diskutiert.

Was den umfangreichen Anhang betrifft, so ist dieser Segen und Fluch zugleich. Hier gilt die Regel, dass Brown hinten das mit dem Arsch einreißt, was er vorne mühsam mit den Händen aufgebaut hat. Mit all seinen Zusatzinformationen und Erklärungsversuchen schießt er weit übers Ziel hinaus, zumal so manche Passage leicht polemisch ist.

Der Comic selbst muss zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres gezählt werden. Er ist aus dem Stoff, aus dem abendfüllende Stammtischrunden gewebt sind und lässt einen so schnell nicht wieder los.

Abbildungen © Walde + Graf / Chester Brown


 Die Daten

Ich bezahle für Sex (Originaltitel: »Paying for It«)
Autor/Zeichner: Chester Brown
Walde + Graf Verlag AG, Zürich
Aus dem Englischen von Stephan Pörtner
Hardcover, s/w, 322 Seiten, 13,7 x 20,5 cm, 22,95 Euro, ISBN 978-3-03774-045-3


 Weiterführender Link:

 Homepage des Verlags: Walde + Graf