»In seinem Buch »Aufstieg und Niedergang des englischen Rasens« schreibt Sir Charles, dass sich ein plattgedrückter britischer Grashalm pro Minute um … äh … um 1,15 mm aufrichtet – ach, ich kann mich an dieses kulturlose metrische System einfach nicht gewöhnen!«
(Percy Pickwick bei der Spurensicherung [aus der Kurzgeschichte »Oldtimer«])
FRISCH GELESEN: Archiv
Percy Pickwick Gesamtausgabe Band 1
Story: Raymond Macherot, Greg, Bob de Groot
Zeichnungen: Raymond Macherot, Jo-El Azara, Turk, Bob de Groot
toonfish
Hardcover | 176 Seiten | Farbe | 29,95 €
ISBN 978-3-86869-766-7
Genre: Krimi, Semi-Funny
Für alle, die das mögen: frankobelgische Klassiker, Detektivcomics, Spaß & Spannung
Die großen Kriminalisten der Popkultur? Klar, da gibt’s Sherlock Holmes, Dr. Watson und natürlich auch den unverwüstlichen James Bond. Und dann gibt es noch Miss Marple, Hercule Poirot, Columbo und Mr. Monk. Ganz zu schweigen von John Steed und Emma Peel, von Sam Spade und Kommissar Maigret. - Einer, der aber auch dazu gehört, ist der Vorzeigebrite Percy Pickwick (im Original: Clifton). Leider kann es dieser Meisterdetektiv in Sachen Popularität nicht mit seinen Kolleginnen und Kollegen aufnehmen. Umso erfreulicher ist nun, dass toonfish eine Gesamtausgabe dieser Comicserie gestartet hat.
Erschaffen wurde Percy Pickwick von dem belgischen Künstler Raymond Macherot (1924 - 2008), von dem auch die putzige Tiercomicserie Anatol (Original: Chlorophylle, ab 1953) stammt. Auf Macherots erste Pickwick-Abenteuer folgte 1969 zunächst
ein kurzes Intermezzo des Teams Jo-El Azara/Greg.
Anfang der 1970er haben dann Turk (d.i. Philippe Liégeois) und Bob de Groot den »Spitzenagenten Ihrer Majestät« übernommen und die Serie damit zu ihrem Höhepunkt geführt. Insbesondere die von ihnen geschaffenen Alben »Sieben Tage Angst« (1978), »Ein Ende mit Schrecken« (1979), »Zum Fressen gern« (1980) und »Mord am Meer« (1982) gehören zum Besten, was der europäische Semi-Funny-Comic Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu bieten hatte.
1984 wurde Turk durch Bédu (d.i. Bernard Dumont) ersetzt, der ab 1992 auch das Szenario übernahm. Von 2003 bis 2006 haben dann Bob de Groot und Michel Rodrigue die Abenteuer des Colonels in Szene gesetzt, und 2008 ließ Rodrigue ein in Alleinregie entstandenes Album von Percy Pickwick folgen.
Macht als Pfadfinder, Rennfahrer und Detektiv eine gute Figur: Percy Pickwick
In Deutschland hatte Percy Pickwick bereits eine Odyssee durch verschiedene Verlagshäuser hinter sich (bei Koralle in ZACK, in diversen Kauka-Publikationen sowie bei Gruner & Jahr in YPS), bevor die Serie ab 1983 adäquat bei Carlsen veröffentlicht wurde.
Seinen ersten Auftritt hatte der pfiffige Colonel am 16. Dezember 1959 im Tintin-Magazin mit der Geschichte »Die verschwundenen Geldschränke«, die folgerichtig auch den Auftakt des ersten Bandes der Gesamtausgabe bildet. Pickwick wird in dieser Geschichte als pensionierter Colonel und berühmter Hobbydetektiv vorgestellt, der gerade ein Pfadfinderlager leitet, als er von zwei Juwelieren gebeten wird, den Raub eines kostbaren Diamanten aufzuklären …
Diese erste Pickwick-Geschichte ist eher konventionell erzählt und bietet noch nicht die Klasse späterer Abenteuer, auch wenn der überraschende Auftritt von diebischen Gorillas schöne Erinnerungen an Hergés Klassiker »Die schwarze Insel« weckt. Interessant ist allerdings, dass Macherot hier bereits zahlreiche Elemente einführt, die später zu den liebenswerten Besonderheiten der Serie gehören werden.
So hat etwa Miss Partridge, Pickwicks rührige Haushälterin (bei ZACK, Kauka und YPS übrigens noch »Miss Plumpudding«), bereits in dieser Geschichte ihren ersten Auftritt. Und auch Pickwicks Heimatdorf Puddington wird bereits eingeführt, ebenso wie die Katzenliebe des Colonels. Auch Pickwicks Spezialwaffe – ein Regenschirm, mit dem man schießen kann – kommt schon zum Einsatz. Und wir erleben den Colonel auch als Leiter einer Pfadfindergruppe – eine Tätigkeit, die Turk und de Groot Jahrzehnte später ins Zentrum des Albums »Allzeit bereit« (1983) stellen werden.
Das nächste Abenteuer verschlägt unseren wackeren Kriminalisten dann in die USA, wo Pickwick einen Schnulzensänger aus den Händen seiner südamerikanischen Entführer befreien muss (»Percy Pickwick in New York«, 1960). Zwar kann auch diese Geschichte mit einer hübschen Hergé-Reminiszenz aufwarten (Pickwick hangelt – ähnlich wie seinerzeit Hergés Held in »Tim in Amerika« – halsbrecherisch an einer Hochhausfassade entlang), doch insgesamt kann auch dieses Abenteuer nicht überzeugen.
Der Colonel, interpretiert von Jo El-Azara
Ganz anders dann die folgende Geschichte: In »Unter falschem Verdacht« (1960) muss Pickwick einem alten Pfadfinderkumpel aus der Patsche helfen, der zu Unrecht unter Spionageverdacht geraten ist. Diese Geschichte beeindruckt durch eine stimmige Thriller-Atmosphäre, die in ihren besten Momenten an frankobelgische Krimi-Meisterwerke wie »Tödliche Flut« und »Gefährliche Verfolgungsjagd« (beide aus der Serie Jeff Jordan von Maurice Tillieux) heranreicht. Zudem trifft Pickwick hier zum ersten Mal auf seinen Erzfeind Ottokar Toffel, einem ehemaligen Nazi-Spion. Man sieht: Nicht nur die Bond-Macher haben immer wieder gerne auf die vermeintlichen »diabolischen Qualitäten« der Deutschen zurückgegriffen, wenn es darum ging, charismatische Bösewichte zu erschaffen. Das erste Aufeinandertreffen von Toffel und Pickwick haben übrigens Bédu und de Groot später in dem Album »Die Reportage« (1984) geschildert.
In der nächsten Geschichte lassen dann Greg (Text) und Jo El-Azara (Zeichnungen) die Puppen tanzen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. In »Die teuflischen Zwerge« (1969) muss sich Pickwick in einem abgelegenen englischen Dörfchen mit Schabernack treibenden Gnomen und einem mysteriösen Puppenspieler herumschlagen. Auch diese Geschichte atmet die schaurig-schöne Atmosphäre alter Edgar-Wallace- oder Agatha-Christie-Verfilmungen, wenngleich man Azara deutlich anmerkt, dass er seinen Protagonisten zeichnerisch nicht ganz in den Griff bekommt.
Abgerundet wird dieser Band von drei Kurzgeschichten: »Die Stimme aus dem Nichts« (Text: Greg; Zeichnungen: Bob de Groot und Turk; 1970), »Die verschwundenen Smaragde« (Text: Bob de Groot; Zeichnungen: Turk; 1972) und »Oldtimer« (Text: Bob de Groot; Zeichnungen: Turk; 1973).
Die Gesamtausgabe vereint neben den albenlangen Abenteuern auch alle Kurzgeschichten.
Toonfish legt mit diesem Band den gelungenen Auftakt einer längst überfälligen Pickwick Gesamtausgabe vor, die insgesamt sechs Bände umfassen wird. Bleibt nur zu hoffen, dass die redaktionellen Begleittexte in den folgenden Bänden etwas mehr in die Tiefe gehen werden. Übrigens: Wäre diese schöne Pickwick-Reihe nicht ein passender Anlass für toonfish, nun auch eine Anatol-Gesamtausgabe in Angriff zu nehmen? Diese andere große Macherot-Serie hätte es nämlich ebenfalls verdient, in angemessener Art und Weise gewürdigt zu werden.
[Jörg Petersen]
Abbildungen © 2014 toonfish/LeLombard
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