»Sei unbesorgt. Ich werde nichts tun … nichts als meine Pflicht.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Mythen der Antike: Antigone
Story: Luc Ferry, Clotilde Bruneau
Zeichnungen: Giuseppe Baiguera
Splitter
Hardcover | 56 Seiten | Farbe | 16,00 €
ISBN: 978-3-95839-294-6
Genre: griechische Mythen
Für alle, die das mögen: Klassiker des Altertums, philosophische Diskurse
Den meisten griechischen Mythen der Antike ist die Zeitlosigkeit ihres Inhaltes gemein, da sie sich mit grundlegenden Fragen menschlichen Verhaltens und Miteinanders befassen. Das gilt besonders für die Tragödie Antigone von Sophokles, die zu der Thebanischen Trilogie gehört, gemeinsam mit König Ödipus und Ödipus auf Kolonos. Der Splitter Verlag hat nun in seiner Reihe Mythen der Antike eben diese Erzählung herausgebracht.
Nach dem Tode Ödipus‘ beschließen die Söhne Eteokles und Polyneikes sich die Macht über die Stadt Theben zu teilen und jeweils nacheinander ein Jahr zu regieren. Als Polyneikes seine Regierungszeit einfordert, verweigert Eteokles sie ihm und sein Bruder sieht keine Wahl, als seine eigene Stadt anzugreifen. Während des Angriffs töten sich die beiden Brüder. Der neu eingesetzte König Kreon, ihr Onkel, lässt Eteokles ehrenvoll bestatten und somit den Weg zum Hades beschreiten, verweigert dies aber dem Körper des Polyneikes als Strafe und mahnendes Beispiel für alle, die sich gegen Theben erheben wollen. Antigone, die Schwester der beiden verfeindeten Brüder, kann diesen Bruch mit den göttlichen Gesetzen nicht hinnehmen. Sie will um jeden Preis ihrem Bruder ein Begräbnis zukommen lassen und somit den Willen der Götter erfüllen. Kreon beharrt auf seiner ausgesprochenen Strafe, da für ihn die Gesetzestreue das wichtigste Fundament für ein friedvolles Miteinander der Bevölkerung ist. Ein Konflikt bricht zwischen den beiden sich gegensätzlich gegenüberstehenden Parteien aus, dessen tragischer Ausgang unabwendbar ist.
Kreon spricht Recht und erhebt sich dabei über das göttliche Gesetz.
Die Funktion von griechischen Tragödien bestand seit jeher stärker in der sittlichen Läuterung denn in Kurzweil oder Ablenkung vom Alltag. Ein zentraler Punkt ist daher stets die Interpretation, die der Geschichte angediehen wird. Da die durchschnittliche Leserschaft kaum noch in der Lage ist, sich mit dem Originaltext auseinanderzusetzen, bietet die Splitter-Reihe hier eine gute Form der Annäherung. Bei Antigone handelt sich um den neunten Teil des französischen Lizenztitels Mythen der Antike, insgesamt sollen zwölf Bände erscheinen. In diesem Band wie in den meisten Bänden ist für die Zeichnungen Guiseppe Baiguera verantwortlich. Sein Zeichenstil entspricht dem typischen europäischen Historiencomic mit klarer Panelaufteilung, an Fotorealismus angelehnten Zeichnungen, deren Hintergründe nicht stark ausgearbeitet sind und in der Farbgebung gradlinig und klar strukturiert sind. Sie dienen eher als Träger der Erzählung, als dass sie zum Erzählfluss beitragen. Spannender hingegen ist die inhaltliche Aufarbeitung der griechischen Tragödien.
Die Bestattung musste nicht vollständig vollzogen werden, das rituelle Streuen von Erde genügte bereits.
Clotilde Bruneau ist für die Story verantwortlich, über ihr thront aber Luc Ferry. Bei ihm handelt es sich um einen in Frankreich renommierten Professor der Philosophie, der von 2002 bis 2004 als Minister unter Jean-Pierre Raffarin in dessen Kabinett arbeitete. Ferry gilt als überzeugter Kritiker der französischen Grünen und »des Geistes von 68«. So fällt auch seine Interpretation der Antigone entsprechend konservativ aus. In dem sechsseitigen Begleittext, der umfangreich mit klassischen Werken bebildert ist, lässt Ferry einzig die Hegelsche Interpretation der Tragödie gelten. Fast abfällig äußert er sich über weitere Interpretationsansätze wie die psychoanalytische oder gar die feministische (Gott bewahre uns!). Zwar finde auch ich die Hegelsche Herangehensweise die schlüssigste – Judith Butler verfehlt in meinen Augen den interessanteren feministischen Blickwinkel von Antigone1 –, jedoch lässt sich deutlich herauslesen, wessen politischen Geistes Kind Ferry ist. Gänzlich zu ignorieren, dass die beiden einander gegenüberstehenden Parteien unterschiedlichen Geschlechts sind, wird der Tragödie nicht gerecht.
Antigone empfindet ihre Tat als richtig, versucht aber auch nicht, der Strafe ihres Onkels und Königs zu entkommen.
Trotzdem ist der von Ferry gewählte Blickwinkel spannend und aktueller denn je. Wie können zwei Meinungen, die beide auf ihre Weise moralisch wie rechtlich legitim sind, aber in keiner Weise miteinander vereinbar, zu einer Lösung des Konflikts kommen? In der anhaltenden Pandemie, in der wir uns befinden, sehen viele von uns sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Da steht zum Beispiel das Recht auf physische Unversehrtheit dem auf psychische Gesundheit gegenüber. Ist es gerechtfertigt, alte Menschen in Pflegeheime einzusperren und vereinsamen zu lassen, damit sich nicht zu viele anstecken und unser Gesundheitssystem kollabiert? Oder dass viele Menschen in den finanziellen und existenziellen Ruin getrieben werden zum Wohle aller? Auch hier stehen unvereinbare Positionen einander gegenüber, die beide eine gleichwertige Berechtigung zu haben scheinen. Wie lässt sich die Tragödie lösen? Sophokles wie auch Hegel sehen kein gutes Ende für einen solchen Konflikt. Vielleicht schaffen wir es ja aber, unsere Krise dadurch zu beenden, dass wir uns nicht gegenseitig besiegen, sondern gemeinsam das Corona-Virus.
[Mechthild Wiesner]
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1 Es gibt zwei grundlegende feministische Deutungen der Antigone. Die erste ist von Jacques Lacan, die zweite von Judith Butler. Beide gehen stark auf den Geschlechterunterschied zwischen den Antagonisten Antigone und Kreon und die Einteilung in familiäre und gesellschaftliche Bindungen ein. Während Lacan die Normüberschreitung und das Begehren in den Vordergrund stellt, geht Butler stark auf die Genderkonstruktion der Antigone ein, welche sie ihrer Meinung nach aufhebt, indem sie sich über die Gesetze des Kreon erhebt. Butler sieht in Antigones Loyalität ein sexuelles Begehren nach ihrem verstorbenen Bruder und darin die Normüberschreitung. Beide gehen aus meiner Sicht zu wenig darauf ein, dass Sophokles mit Antigone bewusst einen weiblichen Charakter gewählt hat, da Frauen zu seiner Zeit politisch nichts zu sagen hatten. Ihre Normüberschreitung, dass sie die ihr zugedachte Rolle als Frau nicht akzeptiert, macht sie zu einem starken und handelnden Charakter.
Abbildungen © 2021 Splitter / Giuseppe Baiguera, Luc Ferry, Clotilde Bruneau
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