Frisch Gelesen Folge 331: Von Mäusen und Menschen

»›Ein Mann geht kaputt, wenn er niemanden hat. Ist egal, wen. Hauptsache, er hat jemanden. Spielt keine Rolle, was für ein Kerl das ist, wenn nur einer da ist.‹ Er rief laut: ›Ich kann dir sagen, ein Kerl wird sonst einsam und er wird krank.‹«


FRISCH GELESEN: Archiv


Von Mäusen und Menschen

Story: John Steinbeck
Zeichnungen: Rébecca Dautremer

Splitter
Hardcover | 424 Seiten | Farbe | 49,80 €
ISBN: 978-3-98721-042-6

Genre: Literaturadaption

Für alle, die das mögen: Literatur, Comics



Eine kurze Nachricht für alle, die niemals mehr lesen als den ersten Absatz eines Textes: Das ist die beste Literaturadaption, die ich kenne. Willst du nur einen Comic nach einem Roman lesen – lies diesen.


John Steinbeck war nicht nur ein enorm erfolgreicher Schriftsteller, der Bestseller schrieb, die vielfach verfilmt wurden und dafür 1962 auch noch den Literaturnobelpreis verliehen bekam, sondern auch ein überzeugter Humanist. Seine Weltsicht basierte allerdings nicht auf schönen Ideen und wohlmeinenden Ideologien, sondern vor allem auf praktischen Erfahrungen: Der 1902 geborene Autor war am Anfang seiner Karriere recht erfolglos und schlug sich mit genau den Gelegenheitsjobs durch, über die er später schrieb. Dabei traf er viele Menschen, die Vorbilder für die Charaktere seiner Bücher wurden und deren schwere Leben ihn offensichtlich berührten. In seinem Tagebuch notierte er 1938, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Von Mäusen und Menschen und ein Jahr vor seinem größten Erfolg Früchte des Zorns: »In jedem Stück ehrlichen Schreibens steckt ein Grundthema. Versuche, die Menschen zu verstehen, verstehst du die anderen, gehst du gut mit ihnen um.«

Von Mäusen und Menschen ist ein kurzes Buch, aber eines seiner wichtigsten Werke. Die Hauptfiguren sind zwei Wanderarbeiter, George und Lennie, die in den 30er Jahren durchs Land ziehen und für wenig Geld auf Farmen arbeiten. Die beiden wünschen sich einen eigenen Hof, auf dem sie Tiere halten und Gemüse anbauen können, aber insgeheim ahnt zumindest George, dass es nie so weit kommen wird. Der leicht zurückgebliebene Lennie dagegen glaubt fest daran. Als die beiden auf einer Farm Candy treffen, einen alten Arbeiter, der in seinem Leben 350 Dollar gespart hat und sie damit unterstützen will, sieht es kurz so aus, als würde ihr Traum tatsächlich wahr werden. Doch stattdessen endet bald alles in einer fürchterlichen Katastrophe.


Literatur als Comic ist in der Regel unerträglich. Viele Adaptionen bewegen sich auf dem Niveau der Illustrierten Klassiker – schlecht gezeichnet, schlecht getextet –, aber selbst visuell ambitionierte Arbeiten basieren auf der Idee, dass es in der Literatur um Geschichten geht, die nur nacherzählt werden müssen, um dem Buch gerecht zu werden. Doch Literatur lebt von Sprache: Wer Moby Dick oder Don Quijote nacherzählt, kann auch aus Chris Wares Jimmy Corrigan ein Hörspiel machen. Der Erfolg solcher Adaptionen beruht, glaube ich, vor allem auf der Idee, dass es damit möglich ist, »Bücher, die man gelesen haben muss« in wenigen Stunden zu erledigen, statt damit Wochen oder gar Monate zu verbringen. Dafür würde allerdings auch die Zusammenfassung bei Wikipedia reichen. Außerdem: Wozu? Kultur ist für die Menschen da, nicht umgekehrt!

Doch es geht auch anders, wie dieses grandiose Buch beweist. Die französische Künstlerin Rébecca Dautremer hat für ihre Version den gesamten Text des Buches übernommen. Steinbeck wollte populär sein, und so fließt seine Sprache in einem einfachen, erdigen, warmen Flow dahin, der das Buch angenehm von der Quelle bis zur Mündung trägt. Das klingt so:

»Obwohl das helle Abendlicht durch die Fenster des Schlafgebäudes zu sehen war, war es innen bereits dämmrig. Durch die offene Tür waren die mal dumpfen, mal helleren Klänge von einem Hufeisenspiel zu hören, ab und zu auch Stimmen, die Beifall oder Spott bekundeten. Slim und George traten in den dunkler werdenden Schlafsaal. Slim reichte mit der Hand über den Spieltisch und drehte das elektrische Licht unter dem blechernen Lampenschirm an. Sofort war der Tisch hell erleuchtet; der kegelförmige Schein fiel senkrecht nach unten, sodass die Ecken des Raums im Dämmerlicht blieben.«


Diese Seite ist allerdings kein gutes Beispiel für das Buch, denn die Künstlerin kommentiert mit ihren Bildern sehr viel häufiger das Geschehen, als dass sie es illustriert. Manchmal visualisiert sie Gefühle der Protagonisten, Lennies oft in knalligen Kinderbildern, manchmal assoziiert sie frei, einige textlose Doppelseiten stellen einzelne Figuren vor. Die Dialogseiten erinnern häufig an frühe Zeitungscomics, in denen der Text unter den Bildern steht – Sprechblasen gibt es keine. Die Bildsprache erinnert an die Ästhetik der Zeit, in der das Buch spielt, an Anzeigen, Fotos, Illustrationen. Die Kapitel werden von einer Reihe textloser Doppelseiten getrennt, die zum Teil an die klassischen Werbetafeln erinnern, auf denen der »American Dream« beschworen wurde, was gut passt: John Steinbeck war ein großer Anhänger von Franklin D. Roosevelt, der mit dem New Deal bessere Zeiten für alle Amerikaner versprach.

Das gesamte Buch sieht fantastisch aus und ist stilistisch extrem vielfältig. Das liegt wohl auch daran, dass Rébecca Dautremer es nicht chronologisch gezeichnet hat und so der visuelle Flow immer wieder überraschende Wendungen nimmt. Im Nachwort heißt es, sie habe die 211 Doppelseiten über eineinhalb Jahre geschaffen, und wer mehr wissen will, erfährt dort auch alle technischen Details. Wie es ihr gelang, den Roman in kleine Einheiten zu zerlegen, die sich gut bebildern und wunderbar weglesen lassen, steht da nicht. Ist aber auch egal.


Von John Steinbeck lernen heißt sich kurzfassen. Also: Große Literatur trifft große visuelle Literatur. Es wird nicht besser.

[Peter Lau]

 

Abbildungen © 2022 Splitter / John Steinbeck, Rébecca Dautremer


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