Frisch Gelesen Folge 360: Harlem

 

»Und wisst ihr, wie diese Chlorgesichter südlich der 'Grenze' den Donnerstag des Börsenkrachs von 1929 nennen, hm? Denkt daran, meine Brüder und Schwestern … Sie haben diesen Donnerstag den 'Schwarzen Donnerstag' genannt! Den 'Schwarzen'!«


FRISCH GELESEN: Archiv


Harlem

Story: Mikaël
Zeichnungen: Mikaël

Splitter
Hardcover | 128 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 978-3-98721-052-5

Genre: Crime, Film noir

Für alle, die das mögen: American Gangster (2007), Harlem NYC (1997), Godfather of Harlem (seit 2019)



Wer schon einmal aus Versehen mit der Express-U-Bahn in New York gefahren und aufgrund der wenigen Haltestellen unbeabsichtigt in Harlem ausgestiegen ist, der wird den besonderen Flair dieses Viertels nachempfinden können. Auch wenn sich die Zeiten in den vergangenen Jahrzehnten geändert haben, der Mythos von Harlem schwingt einfach mit. Je nachdem, ob man eher die positiven oder negativen Eindrücke mitgenommen hat, verbleibt etwas Unvergleichbares. Und damit kommen wir auch schon zu Harlem, dem Comic.


Dieses unausgesprochene Gefühl und eine Königin: Mikaël taucht ins New Yorker Viertel Harlem ein.


Dieses unausgesprochene Gefühl und die damit einhergehende Fantasie werden von Mikaël in Bilder umgesetzt, die einen schon vor dem Lesen direkt in ihren Bann ziehen. Im Zentrum steht mit Stephanie St. Clair (1897–1969) eine Frauen- und Bürgerrechtlerin der etwas anderen Art. St. Clair war die ungekrönte Königin einer Glücksspiellotterie und wurde deshalb von allen nur Queen oder Queenie genannt. Statt sich auf der Straße festzukleben, nutzte sie ihre Verbindungen, um in einer Zeitungskolumne auf die Missstände in Harlem aufmerksam zu machen. Das brachte ihr nicht nur Applaus im eigenen Viertel, sondern jede Menge Feinde ein – von der irischstämmigen, rassistischen und korrupten Polizei bis zur jüdischen und italienischen Mafia, die an Queenies einfachem und ausgesprochen lukrativem Geschäftsmodell interessiert waren.

Das waren die Zeiten von Arthur Simon Flegenheimer (1901–1935), besser bekannt als Dutch Schultz, und der expandierenden italienischen Mafia unter dem deutlich intellektuelleren Lucky Luciano (1897–1962), die Harlem als Verkaufsgebiet für sich reklamierten. Einzig Ellsworth Raymond »Bumpy« Johnson (1905–1968), der letztendlich ein realistisches Auge auf die kommenden Entwicklungen hatte und in Mikaëls Szenario ganz offensichtlich nur als Queenies Leibwächter und Liebhaber fungiert, versucht, die unterschiedlichen Strömungen unter einen Hut zu bekommen.


Auftritt: Ellsworth Raymond »Bumpy« Johnson


Bumpy ist auch der tatsächliche Star der eingangs erwähnten Filme und Serien. Gut, in American Gangster ist er nur in der Anfangssequenz zu sehen, in der er den Niedergang der Kultur beklagt und kurz danach stirbt. Aber trotzdem wird seine Bedeutung – im Gegensatz zu Harlems ungekrönter Königin – hervorgehoben. Ganz anders bei Mikaël: In Harlem ist Queenie verdientermaßen die Hauptperson.

Harlem ist ein Fanal unterschiedlichster Genres: Es geht um Kriminalität, Feminismus, Rassismus – und vielleicht ist gerade diese Vielfalt ein bisschen zu viel des Guten. Das alles liest sich supergut, Stimmung, Grafik und Farbgebung (detailverliebtes Sepia sowie farblich davon abgesetzte Panels, die Queenies Vergangenheit erzählen und ihre Motivation zu veranschaulichen versuchen) passen wie die Faust aufs Auge. Aber stimmt der Fokus?


Grafisch abgesetzte Panels erzählen von Queenies Vergangenheit.


Nach all meinen Recherchen rund um diese Geschichte war Harlem einer der Brandherde der aufkommenden Bandenkriminalität. Queenie war eine berüchtigte Kriminelle und wurde tatsächlich zu einer Legende, die gegen extremen Rassismus ankämpfte und eine erbitterte Verfechterin der schwarzen Gemeinschaft wurde. Bumpy hingegen war wohl der entscheidende Strippenzieher, der für einen nachhaltigen Erfolg der mafiösen Machenschaften verantwortlich war.

Letztlich ist das natürlich die Entscheidung des Autors, der hier eine wundervolle Geschichte, genial umgesetzt vorlegt – mit der sehr fokussierten Sichtweise auf Harlems ungekrönte Königin.


Ein tödlicher Widersacher: Arthur Simon Flegenheimer alias Dutch Schultz


Wenn ich einen Comic zu dem Thema kaufen wollte, wäre Harlem sicherlich eine erste Wahl. Tolle Geschichte, abgeschlossen, super Zeichnungen – was will man mehr?! Wenn ich einen geschichtlichen Abriss haben wollte, sozialkritisch und historisch belegt, mit Details zur Harlem Renaissance und der Förderung schwarzer Menschen rund um Geistesgrößen wie W. E. B. Du Bois (1868–1963) gehe ich dann doch mal wieder in die Stadtbibliothek.

Harlem ist kurzweilige Unterhaltung, die dem Interessierten mehr Fragen als Antworten hinterlässt – vielleicht ist es so gewollt!

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2023 Splitter / Mikaël


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