Frisch Gelesen Folge 369: Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein

 

»Wir wollen keine Welt, in der Geld unser Ideal ist. Wir wollen kein Handeln zum Nachteil der anderen. Wir wollen keine Welt, in der der Wille zur Macht die Regel ist. Nein, wir wollen, dass es allen möglich ist, etwas dafür zu tun, dass gemeinschaftliche Wege entstehen.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein

Story: Emmanuel Lepage
Zeichnungen: Emmanuel Lepage

Splitter
Hardcover | 312 Seiten | Farbe | 45,00 €
ISBN: 978-3-98721-164-5

Genre: Personal History, Sachcomic

Für alle, die das mögen: Die heilige Krankheit (David B.), Ein Frühling in Tschernobyl (Emmanuel Lepage), Ein Freitod (Steffen Kverneland)



Wie wollen wir leben? Alleine? In der Kleinfamilie, was oft genug dasselbe bedeutet? Oder anders? Das sind gute Fragen, auf die es heute zum Glück viele Antworten gibt. Die Zahl der Wohnprojekte und -gemeinschaften wächst, von WGs für einige Erwachsene über einzelne Gebäude wie etwa Mehrgenerationenhäuser bis zu ganzen Neubauanlagen für viele Menschen. Aus heutiger Sicht scheint es, als hätte diese Entwicklung mit den Hippies begonnen, deren (Land-)Kommunen und Experimental-WGs stets Medienaufmerksamkeit hatten, aber tatsächlich ist die Sehnsucht nach einer anderen Form des Zusammenlebens älter und wohl auch verbreiteter als gemeinhin angenommen.

Der französische Comic-Künstler Emmanuel Lepage, der einen Teil seiner Kindheit Ende der 1960er-Jahre in einer Land-WG verbrachte, erkundet in Eckstein, Eckstein…, wie diese Gemeinschaft entstanden ist und woran sie scheiterte. Er beginnt mit der Geschichte seiner Eltern aus armen Verhältnissen, beschreibt ihre Suche nach einer Existenz jenseits einer Zweierbeziehung und berichtet von der langwierigen Entwicklung eines Gruppenlebens mit fremden Menschen. Er erzählt von der vor allem für Kinder goldenen Zeit der Gemeinschaft und von ihrem Ende voller Missverständnisse und Themen, über die nie wieder gesprochen wurde. Es ist die alte Geschichte: Die Ideale der Menschen kollidieren mit ihren begrenzten Fähigkeiten und schlechten Gewohnheiten.


Die meisten Mitglieder der 1964, also erstaunlich früh gegründeten Lebensgemeinschaft gehörten zu La Vie Nouvelle, einer katholischen Reformbewegung, deren Ideen im Zweiten Vatikanischen Konzil 1964 wichtig waren und die unter anderem ein gemeinschaftliches, spirituelles Leben anstrebte. Sie waren zudem beeinflusst von den Rover, einem Zweig der Pfadfinder für Volljährige, der die Pfadfinderideale in die Erwachsenenwelt retten wollte, und von Boquen, einer Abtei in der Bretagne, die sich unter der Leitung des jungen Mönchs Bernard Besret zum Zentrum eines neuen Katholizismus entwickelte. Wer an dieser Stelle »Hä?« sagt – mir ging es genauso. Das ist für mich eine Qualität dieses Buches: Es erlaubt einen Blick in eine bürgerliche Subkultur, von der ich noch nie gehört hatte.

Wobei Lepage nicht in der Vergangenheit bleibt. Irgendwann erzählt er, dass er während seiner Reisen ständig auf neue Lebensgemeinschaften hingewiesen wird, und schließlich besucht er eine, die er im Anschluss ebenfalls verfolgt. Ihre Idee ist ähnlich: Gutbürgerliche Menschen versuchen, auf dem Land eine neue Form des Zusammenlebens zu finden. Nur mit einem Unterschied: Es sind ältere Leute, deren Kinder aus dem Haus sind und die ihren nächsten Lebensabschnitt bewusst gestalten wollen. Auch da hatte ich ein Gefühl von Subkultur, obwohl ich mir sicher bin, dass es so etwas auch in Deutschland gibt. Aber ich höre nie davon.


Emmanuel Lepage zeichnet Natur so eindringlich und sinnlich wie kaum jemand sonst. In Reise zum Kerguelen-Archipel zeigte er das Meer, in Weiß wie der Mond die Antarktis und in dem wunderschönen Ein Frühling in Tschernobyl, nun ja, eben das. Natürlich legen in diesen Büchern die Themen die visuelle Opulenz nahe – und das scheint für das Thema Lebensgemeinschaften erst mal nicht zu gelten. Trotzdem sieht das Buch fantastisch aus, und mit der Zeit wird auch klar, warum.

Es gibt zwei Gründe, warum diese Menschen aufs Land gezogen sind. Einer ist die Natur, und deren Schönheit ist hier unübersehbar: Lepage zeichnet Bäume, Wiesen und Wälder in allen Jahreszeiten, und es sieht wundervoll aus, nicht zuletzt dank des Lichts, das oft weich wirkt und alles mit einem Glanz überzieht. Der andere Grund sind die Menschen, von denen sich die Protagonisten, wie sie selbst sagen, angezogen fühlen, und auch das zeigen die Bilder: Alle Personen sind klare Charaktere – ihre Vielschichtigkeit ist ihnen ins Gesicht, äh, gezeichnet.


Es heißt, die Sieger schreiben die Geschichte, aber das bedeutet natürlich nicht, dass das Geschriebene die Geschichte abbildet. Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein ist ein Dokument einer Welt, die nicht in die klassische Fortschrittserzählung des 20. Jahrhunderts passt, wo es stets um Wohlstandsvermehrung und Innovation geht, um größere Häuser und schnellere Autos. Aber auch die alternative Variante der nackten, verrückten Kommunarden hat dafür keinen Platz – zu spießig, zu langweilig, zu katholisch. Nein, das ist eine ganz andere Welt.

Natürlich ließe sich das alles auch als Sachbuch erzählen, 300 Seiten, Hardcover, aber die Bilder geben eine emotionale, sinnliche Ebene, die mit Worten nur schwer zu fassen wäre. Damit ist das Buch für mich das perfekte Beispiel für einen gelungenen Sachcomic: inhaltlich so interessant, dass es jede Form füllen könnte, und mit Bildern, die fühlen lassen, was nicht gesagt werden kann. Es erinnert mich an andere Werke des Genres Personal History, an Die heilige Krankheit von David B., einer Familiengeschichte in einer esoterischen Parallelwelt der frühen 1970er, und an Ein Freitod von Steffen Kverneland, in dem er den Selbstmord seines Vaters bis ins Detail spürbar macht. In dieser Liga sind Sachcomics mehr als nur Fakten mit Bildern – sie sind eine ganz eigene Kunst.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2023 Splitter / Emmanuel Lepage


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