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Frisch Gelesen Folge 126: Ein Freitod

»Viele Jahre später erzählte Mama, dass er schon vor ihrer Hochzeit von Selbstmord gesprochen hatte. (…) Er hatte einen Brief hinterlassen, der an sie gerichtet und sehr persönlich gewesen sei. (…) Er hatte geschrieben, dass er warten wollte, bis beide Jungs, also Tore und ich, volljährig waren, sagte sie. Ein halbes Jahr nach meinem achtzehnten Geburtstag machte er es dann.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Ein Freitod126 freitod cover

Text: Steffen Kverneland
Zeichnungen: Steffen Kverneland

avant-verlag
Hardcover | 120 Seiten | Farbe | 28,00 €
ISBN: 978-3-96445-010-4

Genre: Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Kurzgeschichten von Jirô Taniguchi, Knut Hamsun, Kunst des 20. Jahrhunderts.


 

Obwohl Graphic Novels sehr gerne große Probleme (Rassismus, Faschismus, Gender-Diskriminierung, Terrorismus, Krieg) thematisieren und das Leid von Menschen breit auswalzen (Flucht, psychische Krankheiten, Krebs), behandeln sie Selbstmord nur selten. Das wirkt auf den ersten Blick merkwürdig, aber möglicherweise liegt der Grund in einem ebenso zentralen wie tragischen Aspekt des Phänomens: Während etwa bei einer potenziell tödlichen Krankheit die Schwere des Geschehens an tausend Details festzumachen ist, verbirgt sich das Leid, das in den Selbstmord führt, sehr häufig in den Betroffenen, bis es so unerträglich ist, dass der Tod die einzige Lösung zu sein scheint. Eine Dramaturgie, an der man eine Geschichte, also eine Entwicklung, erzählen kann, fehlt da. Hinzu kommt, dass die Implosion des Todes oft ebenfalls in aller Stille geschieht – viele Selbstmörder wollen ihre Familie schonen, zudem sind sie selten an Publikum interessiert. Kein Wunder, dass die Nachkommen oft ratlos zurückbleiben:

Der norwegische Comickünstler Steffen Kverneland (in Deutschland bekannt für die Künstlerbiografien Olaf G. [mit Lars Fiske] und Munch [ausgezeichnet mit dem norwegischen Literaturpreis]) hat das mit seinem Vater erlebt. Odd Kverneland war ein erfolgreicher Ingenieur und Erfinder, der sich um seine Kinder kümmerte, regelmäßig Geld ins Haus brachte und Worte erfand: »Wundertüte« für Tränensäcke, »Fässchen« für einen kleinen Bauch, »Drecklade« für einen Mund voll schlechter Zähne, »Seifenstelzen« für dünne Beine. Er war ein Spaßvogel, Neurotiker, Säufer, Bastler, Familienmensch, Einzelgänger, Nonkonformist, Angepasster. Eine Ansammlung von Widersprüchen. Und eben ein Vater. Steffen Kverneland hat gerade selbst ein Kind bekommen und tut, was in dieser Situation viele tun: Er schaut in die Vergangenheit, vermutlich um sicherzugehen, dass sie bleibt, wo sie ist:

Das Buch hat keine logische Gliederung, keine zeitliche Abfolge, keine Dramaturgie. Kverneland erzählt, was ihm so durch den Kopf geht: über seinen Vater, seine Mutter, die Großeltern. Über sich und seine Unfähigkeit zu trauern. Er war 18, als sein Vater starb – wie sollte er es angemessen können? Aber natürlich hat er für sein altes Ich nicht sehr viel Verständnis:

Manches ist lustig, manches ergreifend, manches banal. Und alles summiert sich zu – nichts. Das ist das Beste an diesem erstaunlichen Band: Kverneland versucht nicht, das Unbegreifliche in eine Verstehen simulierende Form zu gießen. Er lässt dem Menschen, der aus dem Leben geschieden ist, die Würde des Unerklärlichen. Sein Vater darf ein Rätsel bleiben – also ein Mensch. Und das gewährt er auch allen anderen Mitwirkenden:

Ein Freitod ist näher an dem, was manche Literatur nennen, als fast alles, was unter der Rubrik Graphic Novel so erscheint. Und es ist fantastisch anzusehen. Kverneland ist ein grandioser Künstler, der leichte und schwere Striche, Cartoons und Ölgemälde, alte Fotos und grob wirkende Skizzen aus einem bodenlosen Pool der Möglichkeiten zieht – jede Seite ist perfekt. Was allerdings auch ein bisschen absurd ist, denn die ästhetische Perfektion steht in einem krassen Gegensatz zum Fazit – einer extensiv ausgebreiteten Leere. Man versteht nichts – aber das auf einem hohen Niveau:

 [Peter Lau]

Abbildungen © 2019 avant-verlag


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