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Frisch Gelesen Folge 420: Der letzte Tag des Howard Phillips Lovecraft

»Niemand hat dich besucht. Und niemand wird kommen. Außer mir und vielleicht dem Tod. Du hast die Wahl!«


FRISCH GELESEN: Archiv


Der letzte Tag des Howard Phillips Lovecraft

Story: Romuald Giulivo
Zeichnungen: Jakub Rebelka

Splitter
Hardcover | 144 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 978-3-98721-469-1

Genre: Horror, Biografie

Für alle, die das mögen: Daytripper, Das Traumbestiarium des Mr. Providence, House of Penance



Wer einen Roman von Howard Phillips Lovecraft liest, erlebt Enttäuschung. Der Mann war ein miserabler Autor. In adjektivgetränkter Prosa erzählte er die gleiche Geschichte wieder und wieder. Seine Leserschaft verehrt ihn trotzdem bis heute. Sein Cthulhu verkam in den vergangenen hundert Jahren zur Micky Maus des Horrorgenres: Merchandise des Wahnsinns. Seine Leserschaft erhebt Lovecraft, obwohl Antisemit und Rassist, in den Rang von Edgar Allan Poe. Eine Dekonstruktion dieses Mythos scheint überfällig und liegt mit Der letzte Tag des Howard Phillips Lovecraft nun vor. Ein meisterhafter Rausch mit einer Schwäche.

Der französische Szenarist Romuald Giulivo und der polnische Zeichner Jakub Rebelka erzählen den letzten Tag im Leben des Howard Phillips Lovecraft als fantastischen Albtraum zwischen Krankenhausbett und Unterwelt des eigenen Lebens. Dorthin entführt ihn seine eigene Kreation: Lovecrafts literarisches Alter Ego Randolph Carter besucht ihn im Hospital und eröffnet ihm, dass Teile seiner Geschichten sich als Realität herausstellten. Ein Schock für den sterbenden Howard.

Werk und Ideen verhandelt

Von diesem Moment an zieht sein Leben an ihm vorbei: Seine Frau, Houdini und literarische Wahlverwandtschaften rechnen mit ihm in (scheinbaren) Traumwelten ab. Die Grenze zwischen Fakt und Fiktion verschwimmt. Zumal es sich bei den literarischen Wahlverwandtschaften etwa um Stephen King handelt, der erst nach Lovecrafts Tod auf die Welt kam.

Lovecraft, dessen Gesichtszüge und Pupillen mit jeder Seite schwächer erscheinen, geistert also durch seine eigenen Neurosen und Ängste, seinen Hass und seine Einsamkeit. Giulivo und Rebelka finden eine beeindruckende erzählerische Form in diesem Comic, dessen Geschichte öfters von Briefen Lovecrafts unterbrochen wird. Statt Lovecraft zu verklären oder ihn einfach nur in seinen eigenen Mythos zu verpflanzen, verhandeln sie sein Werk und seine Ideen. Der letzte Tag des Howard Phillips Lovecraft besteht also weniger aus Genre, sondern kreist um viele Fragen, die Lovecraft und sein literarisches Erbe betreffen. Und so wandern die Leser durch diese bizarren Szenen, die beide Künstler perfekt eingerichtet haben.

Unsympathisch selbstmitleidig

Zeichnerisch gehört dieser Comic zu den spannendsten Werken der vergangenen Jahre. Weil es mit der Form arbeitet, aber sich nicht in Experimenten verliert. Wie Rebelka die Mimik der Charaktere einsetzt, wie er trotz des hohen Textanteils noch genug Momente findet, in denen die Bilder einfach wirken können, wie dem Comic die geschriebene Sprache zum Ende ausgeht, all dies verstärkt den Rausch dieses Werks.


Lovecraft erscheint in diesem Comic wie die widersprüchliche und unsympathisch selbstmitleidige Gestalt, die er wohl gewesen sein wird. Allerdings verrutscht die Geschichte einmal, wenn ein Tribunal aus Stephen King, Alan Moore und Neil Gaiman auftaucht. Mag Moore im literarischen Sinne von Lovecraft beeinflusst sein, verfolgen King wie Gaiman in ihrem Schreiben andere Ansätze – auch wenn sie vom Autor Lovecraft fasziniert sind. Thomas Ligotti oder Caitlín R. Kiernan wären die spannenderen Geister der Zukunft gewesen. Zumal dieses Tribunal bei allem Selbsthass Lovecrafts reichlich peinlich daherkommt. Die kurze Schwächephase dauert allerdings keine fünf Seiten.


Dieser Comic fügt der Figur Lovecraft und dem ganzen Zirkus um den US-Autor keine gänzlich neuen Aspekte auf der faktischen Ebene hinzu. Und doch führt Der letzte Tag des Howard Phillips Lovecraft in unbekanntes Gebiet. Ein Trip, der sich lohnt. Packender als jeder Roman, den Lovecraft jemals selbst geschrieben hat.

[Björn Bischoff]

Abbildungen © 2024 Splitter / Romuald Giulivo, Jakub Rebelka


Den Comic gibt's im gut sortierten Comicfachhandel oder direkt beim Verlag: Splitter