»Du hättest ihr zumindest einen Kuss geben können!«
»Ein Kuss mehr und die arme Kleine wäre an einer Überdosis gestorben.«
»Du musst aber doch zugeben, dass sie ein wahres Herzchen ist.«
»Du hast offensichtlich noch nie ein Herz aus der Nähe gesehen, Schatz! Metzger-Ehrenwort!«
FRISCH GELESEN: Archiv
Die Adoption Band 1: »Qinaya«
Story: Zidrou
Zeichnungen: Arno Monin
Splitter
Hardcover | 72 Seiten | Farbe | 16,80 €
ISBN: 978-3-95839-529-9
Genre: Slice of Life, Graphic Novel
Für alle, die das mögen: einfach schöne Geschichten
Theodor Sturgeons Gesetz besagt: »Neunzig Prozent von allem ist Mist.« Und das kann man natürlich auch auf die Neunte Kunst anwenden.
Doch was macht einen guten Comic aus? Steht und fällt alles mit den Zeichnungen? Oder doch eher mit der Story? Und kommt es bei letzerem auf die Charaktere, den Spannungsbogen oder die Dialoge an? Egal, wie man diese Fragen für sich beantwortet, denn Geschmäcker sind seit Goethe und Schiller bekanntlich verschieden: Ein guter Comic vereint von allen Aspekten das Beste. Und das kommt nicht so oft vor.
Aktuelles Beispiel ist der Zweiteiler Die Adoption von Zidrou und Monin, der sich auch sehr gut als Splitter-Double-Sammelband gemacht hätte, aber der Verlag respektierte den ausdrücklichen Wunsch der Autoren, den gnadenlosen Cliffhanger zu erhalten und die Geschichte gemäß dem Original in zwei Teilen zu veröffentlichen.
Bei Die Adoption passt nicht weniger als … alles. Text und Bild.
Die Adoption handelt sowohl von ganz großen Konzepten wie Liebe und Familie, als auch von kleinen Details wie anschaulich und nachvollziehbar dargestellte Menschen. Aber der Reihe nach …
Höchst amüsant: Die Adoption bietet mindestens ein Bonmot pro Seite
Ein Erdbeben der Stärke 8,4 auf der Richter-Skala fordert in Arequipa, Peru, 35.559 Todesopfer. Als Rysette und Gabriel, ein französisches Rentnerehepaar, davon in der Zeitung liest, ist Rysette bestürzt, während der alte Gabriel am Mittagstisch zynisch kommentiert: »In solchen Momenten dankt man dem Himmel dafür, dass man mit seinem Hintern nicht auf einer dieser verdammten seismischen Spalten hockt.« Um dann zum Tagesgeschäft überzugehen: »Möchtest du noch eine Scheibe Roastbeef?«
Man merkt schon, Opa Gabriel ist aus ganz besonderes eisenhartem Holz geschnitzt. Der ehemalige Metzgermeister hat sich in seinem Leben alles schwer und ehrlich erarbeitet. Zeit für Familie hatte er nicht wirklich und so war er auch nie der Vater, der er hätte sein sollen, für seine eigenen Kinder.
Unter den Toten des Erdbebens im fernen Peru sind auch die Eltern der 4-jährigen Qinaya. Die kleine Vollwaise wird von Sohn Alain und Schwiegertochter Lynette adoptiert und fliegt aus dem Land des Kondors direkt in das Land, dessen Wahrzeichen der Hahn ist. Und bringt das Leben von Gabriel ganz schön durcheinander.
Toll komponiert:
Die Handlung entwickelt sich gemäß cineastischer Bildfolgen wie in einem guten französischen Film
Die Story vom kaltherzigen alten Sack, der bis zum Finale langsam auftaut und Gefühle zeigt, ist nun wahrlich nichts, was eine Originalitätsmedaille verdient. Was aber Zidrou und Monin daraus machen, ist preisverdächtig. Zidrous Charaktere sind so realistisch und glaubwürdig entworfen, dass man jede ihrer Reaktionen voll und ganz nachvollziehen kann. Besonders die Inszenierung von Gabriel, der sich vom grummeligen Stoffel zum mitfühlenden Großvater entwickelt, ist dem Szenaristen so gut gelungen, dass man bei jedem seiner humorvollen Momente und intelligenten, selbstironischen Kommentare (und die sind nicht selten) echt schmunzeln muss.
Die Zeichnungen von Monin passen perfekt zur Geschichte und sind eine Klasse für sich. Von der sehr schön kolorierten und perfekt austarierten Komposition des Titelbildes über wunderbar emotionale Gesichtsausdrücke bis zu den cineastisch gegliederten Panels ist die Lektüre dieser Graphic Novel ein königlicher Genuss, der auch einem ganz langsamen Betrachten der einzelnen Seiten stand hält und dieses zu einem intensiven Leseerlebnis macht.
Ins Bett geschlichen: Gabriel hält erstmals zur kleinen Qinaya
Und dann ist da dieser elendige Haken, den die Story am Schluss schlägt. Der Band endet nämlich mit einer überraschenden Wendung, die alle Lügen straft, die dachten, sie würden bloß eine dieser heimeligen Feel-Good-Erzählungen in der Hand halten.
Das ist ganz großes Comickino und macht Die Adoption zur uneingeschränkten Empfehlung für jede anständige Comicbibliothek.
[Matthias Hofmann]
Abbildungen © 2017 Splitter / Zidrou & Monin
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Oder beim Verlag: Splitter