»Etwa zehn Mal am Tag denke ich über die Dinge nach und etwa zehn Mal am Tag geb ich's auf, darüber nachzudenken.
Genau … eines Tages wird mir alles sowieso egal sein.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Das Feld des Regenbogens
Story: Inio Asano
Zeichnungen: Inio Asano
Tokyopop
Tradepaperback | 306 Seiten | s/w | 14,00 €
ISBN: 978-3-8420-0849-6
Genre: Drama, Coming-of-Age
Für alle, die das mögen: Solanin, Manga für Erwachsene (Seinen/Josei)
Es soll den Comicleser und es soll den Manga-Leser geben. Dazwischen soll's nicht viel geben. Vor zwanzig Jahren war das noch eklatanter. Wer westliche Comics aus Europa oder den USA las, der machte in der Regel einen riesengroßen Bogen um die Neunte Kunst aus Japan. Zu große Augen, keine Farbe, viel zu schnell durchgelesen … viel zu abgedreht. Da war man sich einig. Ich bekenne mich schuldig. Ich war auch so einer.
Heutzutage, da auch die Grenzen zwischen den Comics der Welt fließender werden und sich die Autoren und Künstler gegenseitig beeinflussen, hat sich einiges verändert. Immer mehr sind gerne bereit, über den eigenen Lesehorizont hinauszuschauen und Neues zu entdecken.
Inzwischen hat sich auch herumgesprochen, dass es Manga gibt, die sich für den niveauvollen, gebildeten Erwachsenen eignen, der hin und wieder gerne in einer Graphic Novel schmökert und staunt, was denn das Medium Comic so alles zu bieten hat. Der erste Name, der fällt, wenn man sich nach Lesetipps aus Nippon umhört, ist Jirō Taniguchi. Mit Werken wie Vertraute Fremde kann man als Leser nichts falsch machen. Nun hat Taniguchi, 1947 geboren, auch schon ein paar Semester auf dem Buckel und geht stramm auf die 70 zu. Und wer etwas von der jüngeren Mangaka-Generation lesen will, die sich abseits der ausgetretenen Shojo/Shonen-Mainstream- oder Videospiel inspirierten Pfade bewegen, der muss schon genauer suchen, um fündig zu werden.
Gefühle liegen in der Luft: Der schönste Sonnenuntergang in Tokyo
Eine kleine Offenbarung ist die Entdeckung von Inio Asano, der seit ein paar Monaten bei Tokyopop einen zweiten Frühling erlebt. Den ersten hat keiner so richtig mitbekommen. Als seine Titel erstmals in Deutschland veröffentlicht wurden (What a Wonderful World bei EMA sowie Sun City bei Schreiber & Leser), gingen diese im allgemeinen Trubel unter. Jetzt hat Tokyopop Asanos neuste Werke lizensiert und bringt diese mit einer Mischung aus »Mut zum Risiko« und »Qualität setzt sich durch« sukzessive auf den deutschen Markt. Nach dem Zweitteiler Solanin und dem Start der fortlaufenden Serie Gute Nacht, Punpun, ist im Oktober 2013 der Einzelband Das Feld des Regenbogens erschienen.
Nijigahara Holograph, wie der Band im Original heißt, richtet sich an den fortgeschrittenen Leser, in jeder Hinsicht. Wer den Zweiteiler Solanin gelesen hat, der ohne Zweifel zu den besten Manga zählt, die 2013 publiziert wurden, wird wissen, was gemeint ist. Dort beschreibt Asano die Welt aus der Sicht von jungen Erwachsenen, die aus der Schule in die Arbeitswelt entlassen werden und nicht so richtig damit zurechtkommen. Lieber mit einer Band und Musik seinen Lebensunterhalt verdienen, was nahezu ein Ding der Unmöglichkeit ist, oder in einem öden Bürojob versauern? Im Vergleich zu Das Feld des Regenbogens ist Solanin geradezu leichte Kost. Die Handlung wird mehr oder weniger chronologisch erzählt, nur unterbrochen von ein paar Rückblenden, und wenn nicht erklärt wird, so kann der Leser durch die Dramaturgie um die Protagonisten schlussfolgern, was gerade passiert.
Spiel mit dem Grauen: Im Brunnen soll ein Ungeheuer leben ...
Das Feld des Regenbogens ist in jeder Hinsicht harter Tobak. Da ist eine mehrschichtige Handlung, die man wie eine Zwiebel entblättern muss, und da ist die non-lineare Erzähltechnik, die äußerste Konzentration beim Lesen erfordert, sowie die Komplexität der Charaktere, die keinem gewöhnlichen Bild entsprechen.
Drei junge Menschen, drei Schicksale, die untrennbar miteinander verwoben sind. Außenseiter Suzuki glaubt seit einem Sturz vom Dach, mit Gott sprechen zu können. Schläger Komatsuzaki leidet an einer Persönlichkeitsstörung, seit er selbst eins aufs Dach bekommen hat. Und das Mädchen Arie liegt im Koma, seit sie beim Spielen von ihren Freunden in einen tiefen Brunnen geworfen wurde.
Das Feld des Regenbogens ist eine schwarze, düstere Geschichte, die den Leser stark beschäftigt und dadurch tief berührt. Asano spinnt eine über elf Jahre dauernde komplexe Handlung aus zwei verschiedenen Strängen, die man mehrmals lesen kann und auch muss, um all die Nuancen zu erkennen, die in der Symbolik einzelner Momente stecken. Seine exzellent durchkomponierten Zeichnungen haben einen hohen Wiedererkennungswert. Er spielt nicht nur mit den Emotionen seiner innerlich zerrissenen Charaktere, sondern auch mit dem Empfinden der Leser. Alleine die Szenen mit den Schmetterlingen sind eine Klasse für sich.
Sprechen die Schmetterlinge zu Suzuki?
Doppelsplashpage aus Das Feld des Regenbogens
Es hört sich hochtrabend an, aber die Lektüre dieses Manga führt den Leser auf eine erweiterte Ebene der Rezeption. Und jetzt kommt's: Ähnlich wie bei der Hochliteratur eines James Joyce oder Thomas Pynchon steckt so viel in dieser japanischen Graphic Novel, dass man gar nicht alles bei der ersten Lektüre erfasst, ja, erfassen kann.
Für Einsteiger empfehle ich Solanin, für Leser, die gerne gefordert werden, empfehle ich diese Geschichte. Ich bin froh, vor rund fünf Jahren meinen Comiclesehorizont mit Manga erweitert zu haben.
[MH]
Der erste Schultag: Beginn der Qualen für Suzuki
Abbildungen © Inio Asano / Tokyopop
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