Abt: Graphic Novel Triple-X-L
Besondere Herausforderungen
Craig Thompsons Habibi bei Reprodukt
→ Interview mit Michael Groenewald
Wer besondere Comics liebt, sollte sich den 20. September 2011 vormerken. Rund sechs Jahre nach dem preisgekrönten Band Blankets erscheint an diesem Datum Habibi, der neuste Streich des US-Amerikaners Craig Thompsons auf Deutsch bei Reprodukt.
Die mit 672 Seiten äußerst voluminöse Graphic Novel erscheint zeitgleich mit der US-amerikanischen Originalausgabe. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse vom 13. bis zum 16. Oktober wird der in Portland, Oregon lebende Autor und Zeichner anwesend sein und sein neues Buch vorstellen.
Redakteur der deutschen Ausgabe dieses beeindruckenden Mammutwerks ist Michael Groenewald. Er erzählte im nachfolgenden Gespräch dem COMIC REPORT, wie der Produktionsprozess verlief und welche Klippen es bei einem solch ambitionierten Projekt zu umschiffen galt. Die Fragen stellte Matthias Hofmann.
Michael, der Standardumfang eines frankobelgischen Comicalbums beträgt rund 44 Seiten. In den letzten Jahren haben Graphic Novels die Tendenz, richtig dicke Bücher zu sein. Habibi, Craig Thompsons neustes Werk, umfasst mehr als 650 Seiten und beeindruckt bereits durch seine imposante Erscheinung. Welches war bislang der dickste Comic, den Du lektoriert und redaktionell betreut hast?
Es ist eines der wesentlichen Merkmale der Graphic Novel, dass sie mit dem standardisierten Umfang für Comics bricht, der in den USA oder in Frankreich seit vielen Jahrzehnten das Erzählen in gezeichneten Bildern reglementiert hat - mit Auswirkungen auch auf die heimischen Comics. Die Freiheit, sich für eine Geschichte den nötigen Raum nehmen zu können, hat dem Comic erzählerisch und thematisch spannende neue Möglichkeiten eröffnet. Wobei man natürlich nicht unterschlagen darf, dass etliche Comics, die als Graphic Novels ihren Weg in den Buchhandel finden, zunächst in Kapiteln als standardisierte US-Hefte, frankobelgische Alben oder aber in japanischen Comic-Magazinen veröffentlicht worden sind.
Das Besondere an Habibi ist sicher, dass Craig Thompson tatsächlich ohne jede Vorveröffentlichung sechs Jahre an seiner Geschichte gearbeitet und gefeilt hat, bis er mit dem Ergebnis von vorn bis hinten zufrieden war.
Für mich als Redakteur ist es in den vergangenen Jahren durchaus üblich geworden, an Comics mitzuwirken, die einen Umfang von 100 Seiten oder mehr haben – auch bei der Arbeit mit deutschen Zeichnerinnen und Zeichnern. Habibi mit seinen über 650 Seiten ist da dennoch ein Solitär. Den Spitzenplatz in meiner persönlichen Umfangsskala hatte bisher ebenfalls Craig Thompson inne: Der Habib“-Vorgänger Blankets, den ich für die Neuausgabe bei Carlsen bearbeitet habe, hat auch schon um die 600 Seiten.
Obwohl auch Habibi nicht an Charles Schulz’ gesammelte Strips in der Peanuts-Werkausgabe (Carlsen) heranreicht: Bis heute habe ich als Redakteur über 3500 Seiten Peanuts bearbeitet – und noch nicht einmal die Hälfte des Gesamtwerks ist bewältigt.
Reprodukt kündigt den Band als »ein modernes Märchen aus Tausendundeiner Nacht« an. Wie ist das genau gemeint?
Es ist augenscheinlich, dass sich Craig Thompson für Habibi von den Erzählungen aus Tausendundeine Nacht hat inspirieren lassen. Das betrifft zum einen das Setting der Geschichte: Wüste, Karawanen, Paläste und Harems – eine orientalische Märchenlandschaft wie sie im Buche steht. Auch die Figuren scheinen zum Teil aus den Märchen entlehnt.
Der Einfluss geht aber über die Kulisse hinaus, denn Habibi ist wie Tausendundeine Nacht eine in Bild, Wort und Kalligrafie kunstvoll verschachtelte Geschichte, in der das Erzählen breiten Raum einnimmt. In Habibi wird ständig erzählt: Aus dem Koran, aus den Hadithen – den traditionellen Überlieferungen über den Propheten Mohammed –, aus der Bibel, zuweilen auch aus den Erzählungen der Scheherazade selbst.
Diese Erzählungen sind verwoben mit den Geschehnissen um Dodola und Zam, zwei Sklavenkindern, die gemeinsam in die Wüste fliehen und dort heranwachsen. Bis Craig Thompson seine Protagonisten eines Tages trennt: Dodola wird in den Harem des Sultans verschleppt, und auch Zams Weg hält eine Reihe schwerer Prüfungen parat, bevor das Schicksal die beiden schließlich noch einmal vereint. So weit, so märchenhaft …
Die Moderne hält jedoch schon auf der dritten Seite in Form eines Motorrads Einzug. Und es bleibt nicht das einzige Element aus unseren Tagen, das verstörend – aber dennoch wie selbstverständlich – in die zeitlose morgenländische Welt platzt: Craig Thompson nimmt sich hier alle Freiheiten der Fiktion, nicht zuletzt, um Habibi mit zeitgenössischen Themen zu durchsetzen: Das verantwortungslose Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt spielt ebenso eine Rolle, wie die Reflexionen des Autors zur ungerechten Verteilung natürlicher Ressourcen und der Ausbeutung ärmerer Nationen durch die kapitalistischen Staaten. Craig Thompson hat die Vorarbeiten zu Habibi unter den Eindrücken der Anschläge des 11. September 2001 begonnen und war von der darauf folgenden gesellschaftlichen Entwicklung in den USA erschrocken: Der Verteuflung des Islam hält er in Habibi die gemeinsamen Wurzeln von Islam und Christentum entgegen, die vielfältigen Verbindungen zwischen den abrahamitischen Religionen, derer sich etlichen Christen vermutlich gar nicht bewusst sind. Darüber hinaus ziehen sich weitere hochaktuelle Themen durchs Buch, am augenfälligsten wohl die sexuelle Gewalt gegen Frauen – die sich ja auch schon in den Erzählungen aus Tausendundeine Nacht finden lässt, womit sich der Bogen wieder schließt.
Welche Leser sollten an Habibi Gefallen finden?
Habibi richtet sich an Leserinnen und Leser, die gute Geschichten mögen. So einfach sehe ich das. Und zwar sowohl an solche, die gute Geschichten in Bildern mögen, klar. Aber auch Leute, die nicht regelmäßig Comics lesen, sollten an Craig Thompsons Erzählkunst und seinen großartigen Zeichnungen Gefallen finden. Nicht zuletzt auch an der außergewöhnlichen Gestaltung des Buchs mit seiner Fülle an Ornamentik und Kalligrafie. Die vielfältigen spannenden Themen, die in die Geschichte eingeflochten sind, habe ich schon erwähnt, sie machen die Lektüre umso lohnender. Zum schnellen Weglesen eignet sich der Band dadurch allerdings weniger.
Trotz eines grundsätzlich anderen Themas, trotz eines anderen Erzählansatzes: Leserinnen und Leser, die Blankets mochten, sollten auch an Habibi Gefallen finden. Auch wenn Craig Thompson hier nicht mehr von seiner christlich geprägten Jugend im Mittleren Westen der USA erzählt, so steckt viel Persönliches in seinem neuen Buch. Und einige Fragen, die ihn in Blankets beschäftigt haben, lassen ihn auch in Habibi nicht los.
Die deutsche Ausgabe erscheint fast zeitgleich mit der US-amerikanischen Originalausgabe von Pantheon. Was sind die besonderen Herausforderungen eines solchen Projekts? Zum einen vom Umfang her, zum anderen weil es keine Originalvorlage gibt.
Der Zeitplan war natürlich straff. Da ist es gut, auf zuverlässige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für alle Arbeitsschritte zurückgreifen zu können. Aber das ist bei vielen Projekten im Grunde nicht anders. Wichtig war es, stets den Überblick über die verschiedenen parallelen Arbeiten zu behalten, denn der Umfang und auch die Komplexität waren bei Habibi schon hoch: Zuletzt haben wir beispielsweise an den Details der Übertragung der alchemistischen Lehren und Gedanken des Dschabir ibn Hayyan in Kapitel 4 gearbeitet: Die Recherche war nicht ohne.
Eine Besonderheit: Craig Thompson hat parallel zu unserer Übersetzung und dem Lettern seine Geschichte hie und da in Details verändert und Dialoge poliert. Wenn man ein Buch per Hand lettern lässt, fallen solchen Änderungen natürlich stärker ins Gewicht als bei Computerlettering.
Du hattest mit Craig Thompson direkt zu tun. Wie sah das aus?
Während der Arbeit an Habibi stand ich natürlich im Austausch mit Craig Thompson. Zum einen ging es dabei um Fragen der Übersetzung, denn einige Passagen und Motive des Buchs sind komplex oder doppeldeutig. Zudem hat Craig, wie gesagt, vielfältigste Bezüge und Zitate eingeflochten, die ein hohes Maß an Recherche erfordert haben. Spannend wurde es beispielsweise, da einige der zitierten orientalischen Erzählungen in Habibi im angloamerikanischen Raum in Details stets anders übertragen wurden, als in der deutschen Sprache. Hier und da hat sich das auch auf der Bildebene niedergeschlagen. Es galt aber auch andere Fragen zu klären, z.B. die nach den Stiften, mit denen Craig Thompson Habibi gelettert hat, um diese für das Handlettering der deutschen Ausgabe zu besorgen. Aktuell sind wir in Kontakt, um letzte Fragen bezüglich seines Besuchs anlässlich der Frankfurter Buchmesse Mitte Oktober zu klären.
Was war das für ein Gefühl, als die Reprodukt-Ausgabe endlich die Freigabe zum Druck bekam?
Der letzte Anruf kam von meinem Kollegen Christian Maiwald, der für zwei Tage zur Druckerei unseres Vertrauens gereist war, um dort die Druckabnahme für Habibi zu machen (Zu Besuch bei Pozkal 1; Zu Besuch bei Pozkal 2). Nach dem »Go!« habe ich mich flugs an all die Arbeit gemacht, die über das Projekt liegengeblieben ist. Und ich habe mir vorgenommen, das Dankeschön an all die Menschen nicht zu vergessen, die es möglich gemacht haben, das dicke Buch pünktlich fertig zu bekommen: Unsere Übersetzer Stefan Prehn und Matthias Wieland, unseren Letterer Michael Hau, die Herstellerin Minou Zaribaf und Christian Maiwald, den direkten Draht zum Drucker: Danke!
Wie zufrieden bist Du mit dem fertigen Buch?
Ich denke, die Arbeit hat sich gelohnt. Das Buch ist nach bestem Wissen und Gewissen mit derselben Sorgfalt und Liebe zum Detail bearbeitet und hergestellt worden, wie wir sie allen unseren Büchern angedeihen lassen.
An welchem neuen Titel arbeitest Du gerade und wann soll er erscheinen?
Momentan arbeite ich an einigen spannenden Comic-Projekten mit deutschen Autorinnen und Autoren. Beispielsweise Der Boxer von Reinhard Kleist – die Vorveröffentlichung dieser Geschichte in der FAZ findet dieser Tage ihren Abschluss. Viel Spaß macht auch die Arbeit am neuen Buch von Christian Moser, der sich des Lebens von Karl May angenommen hat (bei Carlsen). Auf die anderen Projekte aus deutscher Feder kann man sich im kommenden Jahr bei Reprodukt freuen. Dann wird in dem Berliner Verlag auch ein weiteres Großprojekt endlich in deutscher Sprache erscheinen, an dem ich gerade sitze: Jimmy Corrigan von Chris Ware. Größter Spaß dieser Tage: Der vierte Band der Mumins, der noch pünktlich zur Frankfurter Buchmesse im Handel sein soll.
Abbildungen © Reprodukt