BLOG: Comic heut' nich' - Folge 7: Von Mauritius nach Israel und Japan

Gegen den Strom

Matthiaz ist zurück. Frisch erholt berichtet er davon, was er so im Urlaub gelesen hat: Autobiografisches des Franko-Kanadiers Guy Delisle und des Japaners Yoshihiro Tatsumi. Beide haben ihn mächtig beeindruckt.

Comic heut' nich', Comic morg'n …

Rapid Comicz Commentz von Matthiaz Hofmann
2012/KW34 - Folge 7: Neue autobiografische Comics

 

Schön war’s. Zwei Wochen weg vom Alltag, ab auf die Insel, elf Flugstunden entfernt. Bye Bye World Wide Web. Tschüss Fernseher. Ade Radio. Auf Wiedersehen Tageszeitung. Ich war skeptisch, ob das heutzutage noch geht. Es ging. Und es hat sich gelohnt.

Gut erholt aus dem Urlaub zurück, gibt es jede Menge aufzuarbeiten, das da liegen geblieben ist. Wir erinnern uns: Anfang Juni war der Comic-Salon in Erlangen und vor allem der erfolgreiche Launch von ALFONZ, unserem neuen Comicfachmagazin (darüber in der nächste Folge mehr). Heute möchte ich zwei autobiografische Comics vorstellen, die ich im Urlaub gelesen habe, sozusagen meine Badehosen-Strand-&-Pool-Lektüre.

Irgendwie verwunderlich, zum allerersten Mal überhaupt habe ich bewusst fast nur comicbezogene Lektüre in den Urlaub mitgenommen. Die Auswahl erfolgte höchst intuitiv und das einzige Kriterium neben »frisch erschienen« war »umfangreich«, also voll von Comiclesestoff sollten die mitgenommenen Titel sein. Also den Koffer gepackt, am Regal mit den Novitäten vorbeigelaufen und diese beiden Wälzer eingepackt: Aufzeichnungen aus Jerusalem von Guy Delisle (Reprodukt) und Gegen den Storm von Yoshihiro Tasumi (Carlsen).

Aber das war natürlich nicht alles. Darüber hinaus nahm ich ein paar US-Fachmagazine mit, die schon länger hier herumlagen (zwei Ausgaben von Roy Thomas‘ Magazin Alter Ego, eine Nummer von Back Issue! und eine alte Comic Book Artist-Ausgabe (Vol. 2, #2 mit dem Frank Cho Special). Dazu diese Comics: Toby Mon Ami von Grégory Panacchione (Delcourt, Originalausgabe, siehe Leseprobe hier), der erste Band der deutschen Ausgabe von Sweet Tooth von Jeff Lemire (Panini, ich habe die US-Einzelhefte von Vertigo) sowie einen Roman von Joe R. Lansdale, den ich normalerweise nur im Original lese, aber den Titel habe ich letzte Weihnachten geschenkt bekommen (Gauklersommer, Golkonda). Und zu guter Letzt fand noch eine weitere Autobiografie ihren Weg ins Reisegepäck: »This is me, Jack Vance!« (Subterranean Press) von Jack Vance, einem Altmeister der Science Fiction-Literatur, dessen Werk ich zusammen mit Leuten wie Brian W. Aldiss, Gene Wolfe, Iain Banks und viele andere mehr relativ komplett im Schrank stehen habe. Das Buch wurde mit dem Hugo Award ausgezeichnet, enttäuschte mich aber unterm Strich doch etwas. Vance erzählt viel über seine Reisen, die ihn zum Teil um die ganze Welt führten, aber er geht kaum auf seine Schriftstellerei, die damalige SF-Branche, Kontakte mit Verlagen, etc. ein – nur im letzten Kapitel plaudert er etwas aus dem Nähkästchen. Aber ich schweife ab …


Reisen dahin, wo’s weh tut

Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem

Aufzeichnungen aus JerusalemAb nach Israel! Es gab eine Zeit, da war es als junger Erwachsener irgendwie cool, ein paar Wochen und Monate im Kibbuz zu verbringen (oder mit 30 Mark in der Tasche vier Wochen durch Indien zu trampen, aber das ist eine andere Geschichte). Mich hat Israel irgendwie nie so richtig interessiert. Das war mir alles eine Spur zu religiös. Auch eine »Reise nach Jerusalem« habe ich bislang nur auf Geburtstagsparties und Hochzeitsfeiern auf mich genommen. Vielleicht lag das daran, dass die Nachrichten stets von einer buchstäblichen Bombenstimmung berichteten, wenn von Palästina, Israel, dem Gazastreifen oder den Golanhöhen die Rede war.

Einer, den es ein ganzes Jahr mitten ins Zentrum der mehrfach zerrissenen und wieder geflickten Stadt Jerusalem verschlagen hat, ist Guy Delisle. Der 1966 geborene Frankokanadier, der seit 1991 in Frankreich lebt, kommt auf der Welt herum, saugt alles in sich auf und berichtet gerne davon. Da er ein Comiczeichner ist, wird er zum sogenannten Comicreporter. Mit kurzen, tagebuchartigen Comics hält er seine persönlichen Eindrücke fest und reichert sie mit allgemeinen Informationen an. Seinen Ruf als pointierter Beobachter zementierte er mit Ausflügen in vom Massentourismus wenig heimgesuchte Orte im hintersten Ostasien wie Shenzhen in China, Pjöngjang in Nordkorea oder Myanmar, besser bekannt als Birma.

Genau genommen sind es natürlich keine »Ausflüge«, sondern längere Auslandsaufenthalte. Die Frau von Delisle arbeitet für die internationale Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« und muss beruflich stets dahin wo es weh tut. Delisles neuste »Aufzeichnungen« beschreiben seine Erlebnisse von einem ganzen Jahr in Jerusalem.

Aufzeichnungen aus Jerusalem Leseprobe 1  Aufzeichnungen aus Jerusalem Leseprobe 2

Die knapp 330 Seiten starke Graphic Novel, die mit dem Flug ins Ungewisse und einer Szene aus dem Flugzeug beginnt und mit dem Rückflug endet, ist eine Art »Memoiren eines Unwissenden«, denn Delisle beschreibt in einer unbekümmernden, fast schon naiven Art seine Annäherung an die Stadt und das Leben zwischen dem schwierigen Interagieren verschiedener Religionen und dem Überleben in einem latent kriegsähnlichen Zustand.

Aufzeichnungen aus JerusalemDelisle hat nicht nur mit Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen, sondern auch mit dem Alltag als Vater, der seine Kids beschäftigen muss, und dem Versuch, eine gewisse Arbeitsroutine herzustellen, in dem er zeichnet oder Vorträge hält.

Delisle ist kein Joe Sacco, der offen Stellung bezieht. Mir haben seine Aufzeichnungen aus Jerusalem aber sehr gut gefallen, gerade weil er seine politische Meinung im Hintergrund hält und dadurch eine erfrischende Sichtweise erlaubt. Es gibt amüsante, recht absurde und fast schon unheimliche Momente, aber da es sich um eine Beschreibung von zwölf Monaten »realen« Lebens handelt, fehlt eine besondere Dramaturgie.

Die Zeichnungen passen zur Erzählung. Sie sind klar, leicht reduziert, beschreiben aber alle nötigen Details nachvollziehbar. Wenn es sein muss, arbeitet er mit Kartenmaterial oder Schemata, um eine Situation deutlich zu machen. Obwohl der Comic in Schwarzweiß gehalten ist, setzt Delisle an verschiedenen Stellen pointiert Farbe ein, etwa um Geräusche wie eine Explosion oder Musik hervorzuheben.

Guy Delisle schafft es, den Leser an seinem Leben in der multireligiösen Stadt teilhaben zu lassen und dabei den diesbezüglich etwas verkrusten engen Horizont zu erweitern. Und das will bei einem Israel-Muffel wie mir etwas heißen.


Gekiga: Als der Manga dramatisch wurde

Yoshihiro Tatsumi: Gegen den Strom

Gegen den StromKennt ihr Michael Chabons Roman »Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay«?

Ich weiß, man kann die beiden nicht wirklich vergleichen. Das eine ist Prosa, das andere ist ein Manga, ein japanischer Comic. Das eine hat den Pulitzer-Preis (2001) gewonnen, das andere nicht --- aber immerhin einen Eisner Award (2010), einen Preis in Angoulême (Prix Regards sur le Monde 2012) und viele andere Comicauszeichnungen.

Warum ich diesen Roman, den nicht nur jeder Comicfan gelesen haben sollte, hier trotzdem erwähne: Als ich Tatsumis Gegen den Strom gelesen habe, hat das bei mir die gleiche Lesemagie freigesetzt wie Chabons Meisterwerk, bei dem es um ein fiktives Siegel und Shuster Duo geht und dessen Anteil an der Entwicklung des US-amerikanischen »Golden Age« der Comics.

Die Lektüre von Gegen den Strom hat mich beflügelt und regelrecht mitgerissen. Sie hat mich so stark berührt, dass ich jedes Mal, wenn ich den mehr als 800-seitigen Wälzer weggelegt habe, den latenten Drang bekam, ihn wieder in die Hand zu nehmen. Nach manchen Kapiteln habe ich das Buch zugeschlagen, habe es gedreht, habe meine Gedanken schweifen lassen, hatte dieses besondere und befriedigende Gefühl, etwas wirklich Großes, etwas So-gut-wie-Wundervolles gelesen zu haben. Das mag sich jetzt etwas plemplem oder zumindest extrem pathetisch anhören, aber es war so (auch auf die Gefahr hin, dass die Lektüre von Gegen den Strom bei anderen nicht mal ein müdes Arschrunzeln hervorruft).

Gegen den Strom Leseprobe 1Worum geht’s?

Die Story beginnt am 15. August 1945. Kaiser Hirohito verkündet das Kriegsende in einer Radioansprache. »Für die einfachen Menschen in Japan endete eine lange Zeit des Leidens. « Der Junge Hiroshi Katsumi ist zehn Jahre alt und Grundschüler und er liebt Manga.

Tatsumi erzählt 15 Jahre aus dem Leben seines Alter Ego, von dessen Kindheit in Osaka im Zeichen des Nachkriegsjapans, die oft von Entbehrungen geprägt war, da sein Vater mehr oder weniger ein Herumtreiber und Nichtsnutz war, und seiner Zeit als Heranwachsender und junger Erwachsener. Hiroshi und sein Bruder, der später auch Mangaka wird, flüchten sich frühzeitig in die Welt der Manga. Jedoch nicht nur als Leser, sondern auch als Zeichner. Ihr großes Vorbild ist der damals noch junge Osamu Tezuka, der dabei ist, seinen Ruf als »Gott des Manga« zu etablieren, und den er persönlich trifft.

Gegen den Strom Leseprobe 2Hiroshi ist so stark vom Manga-Virus infiziert, dass er regelmäßig kurze Gag-Comics bei Wettbewerben der Magazine einschickt und diese dort abgedruckt werden. Früh macht er erste Schritte in der Manga-Industrie, die sich nach dem Krieg immer stärker entfaltet. Die Mechanismen der Branche, von denen die jungen Zeichner ausgebeutet werden, sind mitunter grenzwertig. So werden auch schon mal vier Nachwuchstalente in ein Studio gesteckt, fern ab von zu Hause, um dort von morgens bis abends zu zeichnen.

Hiroshi wird Chefredakteur eines Magazins und spürt zunehmend den Drang, eine andere Art von Manga zu erschaffen, die sich von den lustigen und actionreichen Episoden der etablierten Werke abhebt. So entsteht die Gekiga-Bewegung, »dramatische« Manga-Geschichten, die von realistischen US-amerikanischen oder französischen Filmen und Büchern beeinflusst sind. Hiroshi wird einer der führenden Köpfe dieser alternativen Manga-Revolution, deren Geschichten vielschichtiger, aber auch brutaler und schockierender sind.

Das Besondere an dem Werk ist, dass Tatsumi nicht einfach irgendeine Autobiografie gezeichnet hat, sondern dass man in der ersten Reihe sitzen und miterleben kann, wie die Manga-Branche in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und erblüht ist. Man sieht die Geschehnisse, inklusiver der diversen Auswüchse, mit den Augen eines Insiders, der ein wichtiges Teil im Getriebe des Motors war, der sich schließlich gegen starre Konventionen gewehrt und ein eigenes Genre (Gekiga) begründet hat. Aber als ob das nicht schon vielschichtig genug wäre, hat Tasumi auch japanische Zeitgeschichte auf seiner persönlichen Zeitreise durch die Jahre 1945 bis 1960 im Gepäck.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Zeichentrickfilm »Tatsumi« des Singapurers Eric Khoo aus dem Jahr 2011, der seinen Film auf Gegen den Strom und fünf frühen Kurzgeschichten von Yoshihiro Tatsumi basierte.

Der umfangreiche Schmöker ist ausgestattet mit einem reichhaltigen Anhang mit Fußnoten und Randnotizen. Carlsen hat den Band den westlichen Lesegewohnheiten angepasst, so dass auch Leute, die partout nicht von rechts nach links und von hinten nach vorne lesen können oder wollen, problemlos der Geschichte folgen können. Eine richtige Entscheidung, wie ich finde, denn das Buch hat viele Leser verdient.

Gegen den Strom Leseprobe 3

Ich möchte es jedem wärmstens empfehlen, der sich für Japan, das Medium Manga bzw. Comic und für Comichistorisches interessiert. Aber eigentlich jedem anderen, der eine gute Geschichte mit interessanten Charakteren schätzt. Tatsumi hat mit seinem autobiografischen Manga eine Art Comicbildungsroman geschaffen. Seine Figur des Hiroshi Katsumi ist der Hans Castorp oder der Holden Caulfield der Manga Graphic Novel. Fazit: Gegen den Storm ist eine der wichtigsten Comics, die dieses Jahr auf den Markt gekommen sind.

Aufzeichnungen aus Jerusalem (Originaltitel: Chroniques de Jérusalem)
Text/Zeichnungen: Guy Delisle
Reprodukt, Berlin
Aus dem Französischen von Martin Budde
SC/Klappenbroschur, s/w + Farbe, 336 Seiten, 29,00 Euro
ISBN 978-3-943143-04-1

Gegen den Strom – Eine Autobiografie in Bildern (Originaltitel: Gekiga Hyoryu)
Text/Zeichnungen: Yoshihiro Tatsumi
Carlsen Verlag GmbH, Hamburg
Aus dem Japanischen von John Schmitt-Weigand
HC, s/w, 846 Seiten, 44,00 Euro
ISBN 978-3-551-73104-3

Abbildungen:

Aufzeichnungen aus Jerusalem © 2011 Guy Delisle / 2012 Reprodukt
Gegen den Strom © 2008 Yoshihiro Tatsumi / 2012 Carlsen Verlag


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Weiterführende Links:

Homepage von Reprodukt: Aufzeichnungen aus Jerusalem - Leseprobe

Homepage des Carlsen Verlags: Gegen den Strom

 


Über das Blog

Mit »Comic heut' nich', Comic morg'n …« räumt Matthiaz [sic!] auf, denn jede Woche flattern ziemlich viele Comics auf seinen Redaktionstisch. Nicht alles eignet sich für lange Abhandlungen, aber vieles ist es wert, dass man ein paar Worte darüber verliert. Also macht er es sich bequem und schreibt darüber. Und manchmal auch darüber hinaus …