»Ich hatte keine Ahnung, dass ich süchtig nach irgendwas bin.«
FRISCH GELESEN: Archiv
XES
Story: Florian Winter
Zeichnungen: Florian Winter
avant-verlag
Softcover | 360 Seiten | Farbe |25,00 €
ISBN: 978-3-96445-030-2
Genre: Autobiografie, Drama
Für alle, die das mögen: Aufklärungsgeschichten, persönliche Schicksale, Tabuthemen
Eins sei von vornherein gesagt: Florian Winter macht es uns nicht leicht. Aber warum sollte er das auch. Das Thema, über das er schreibt, ist schwierig, er kämpft fast schon sein gesamtes Leben damit, und ein Ende ist nicht in Sicht. Florian ist sexsüchtig. Und in seinem Comic XES zeichnet er sich seine Geschichte von der Seele; manchmal möchte man meinen, der Leibhaftige sei hinter ihm her. Florian Winter ist ein Pseudonym. Lange hat er damit gerungen, ob er unter seinem Klarnamen veröffentlichen soll oder nicht. Zum Schutz seiner Familie und der Menschen in seinem direkten Umfeld hat er sich dagegen entschieden. Dass er sich für sich selbst schämt, diesen Eindruck vermittelt er nicht. Auch wenn er natürlich in starken Suchtphasen viel Scham für sich und sein Verhalten hatte. Darüber hinaus hat er gelernt, seine Sucht zu akzeptieren und Methoden entwickelt, sie zu kontrollieren.
Geschafft hat er es primär durch Selbsthilfegruppen und das 12-Schritte-Programm der SLAA (Anonyme Sex- und Liebessüchtige), deren System auf dem der AA (Anonyme Alkoholiker) basiert. Der vierte Schritt besagt, dass man »eine gründliche und furchtlose Inventur seiner selbst machen« soll. Florian Winter beschloss, diese Inventur in Form von Zeichnungen vorzunehmen, was ihm als gelerntem Illustrator am einfachsten fiel. Er zeichnete also episodenhaft runter, was in seiner Erinnerung zentral mit seiner Sucht verbunden ist. Aus diesen Skizzen entstand die Idee, einen Comic über sein Leben, aber besonders allgemein über die Thematik Sexsucht zu erstellen. Den einfachen, skizzenartigen Strich seiner Zeichnungen machte sich Winter zu Eigen. Flo, wie der Protagonist genannt wird, ist eine hagere Gestalt mit übergroßer Nase. Er wirkt eher wie eine Karikatur, wie auch alle anderen Figuren. Winters Strich ist grob, die Hintergründe sind nicht ausgestaltet. Die Bilder wirken fahrig und unsicher, den einzigen Ankerpunkt bietet das Farbkonzept. Die schwarz-weißen Zeichnungen werden durch eine rote Farbgebung geschickt akzentuiert.
Die Omnipräsenz des Sexuellen, der Alltagsfrust, die Abwertung durch andere, die sexuelle Entladung: Viele Bilder Winters lassen freien Raum zur eigenen Interpretation, was sie so stark macht.
Nun kann man denken, Sex, besonders Pornografie und Prostitution, mit der Farbe Rot zu verbinden, ist nicht sonderlich innovativ. Ist es auch nicht. Aber zum einen ist es spannend, wie Winter auf subtile Weise zeigt, wo und in welchen Situationen die Sexsucht oder auch das »Sexmonster«, wie er es nennt, lauert. Zum anderen wird das Rot zu einem Gefährten, wenn auch zu einem trügerischen, der den/die Leser*in durch den Comic begleitet. Es ist ein genialer Kunstgriff. Denn so spart sich Winter jegliche Darstellungen sexueller Handlungen oder auch nur weiblicher Körper. Ausnahmen stellen die Gott-Cartoons dar, in denen er sich mit dem sehr auf Gott bezogenen Konzept der SLAA und der Idee, dass Gott alles ist, also auch die Sucht, auseinandersetzt. Durch diese Aussparung triggert er andere Süchtige nicht, die seinen Comic eventuell lesen. Er legt den Fokus klar auf die Krankheit. Das ist bei dieser Thematik nicht immer so. Chester Brown zum Beispiel erzählt in Ich bezahle für Sex von seinem Leben als Freier. Der Comic enthält viele sexualisierte Darstellungen, wobei Brown darauf verzichtet, die Gesichter der Prostituierten zu zeigen, die er besucht. Dadurch objektiviert er die Frauen, degradiert sie zu Mitteln, die ihm dazu verhelfen, mit seiner Unzulänglichkeit umzugehen, sich auf eine andere Art als über Bezahlung Frauen zu nähern. Nach eigener Aussage tut er dies, um die Identität der Frauen zu schützen. Der Gemeinschaft der Frauen tut er damit aber nichts Gutes.
Winter geht hier besonnener vor. Auch wenn sein Erzählstil chaotisch und episodisch ist und wir über vieles im Unklaren gelassen werden oder der Zusammenhang nicht ersichtlich ist, so sind die Erfahrungen doch authentisch und aufrichtig. Die Glaubwürdigkeit ist eine der ganz großen Stärken des Comics. Die Episoden aus Flos Kindheit, mit denen er zu verstehen versucht, warum er so geworden ist, wie er ist, sind schwer zu deuten. Da Winter stark mit visuellen Aussagen arbeitet und an Worten spart, bleibt viel Raum zur eigenen Interpretation. Aber sie geben genau die Art von Verschwommenheit und Intensität wieder, die Kindheitserinnerungen haben können. Später erleben wir, wie er damit kämpft, Normalität zu leben, rückfällig wird und sich immer wieder den allgegenwärtigen Reizen ausgesetzt sieht. Winter sagt hierzu, dass das meiste tatsächlich seiner eigenen Biografie entstammt, er aber auch einige Elemente aus Erzählungen anderer hinzugefügt hat, da sie exemplarisch dafür stehen, wie es ist, mit Sexsucht zu leben.
Die Tochter reißt den Vater aus einem Suchtanfall. Die feinen roten Linien zeigen an, wie schwer es Flo fällt, ihn zu überwinden und gleichzeitig wie wichtig es für die Angehörigen ist, dass der/die Süchtige die Sucht zu kontrollieren lernt.
Der Comic entlässt uns nicht in ein Happy End. Aber er zeigt, dass ein stabiles Leben mit dem Bewusstsein für die eigene Sucht möglich ist. Er legt seiner Leserschaft hierzu stark die Gruppierung der SLAA ans Herz, die ihm sehr geholfen hat. Das Nachwort von Dr. Kornelius Roth, Autor der Buchs Sexsucht, rundet den Comic ab. XES ist ein Aufklärungsbuch, das ohne Moral und ohne Wertung daherkommt. Es greift ein stark tabuisiertes Thema auf, über dessen Umfang sich viele nicht bewusst sind. Winter schafft Bewusstsein bei Menschen, die sich bisher noch nicht mit dem Thema auseinandergesetzt haben und gibt Unterstützung für Betroffene.
[Mechthild Wiesner]
Abbildungen © 2020 avant-verlag
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