Frisch Gelesen Folge 269: Verwandlung

»Ich war mittlerweile nahezu pleite und der Zustand in Paris fing an, mich zu langweilen. Daher beschloss ich, nach Genua zurückzukehren und durch die Heirat mit Juli, wieder an Geld zu kommen.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Verwandlung

Story: Mary Shelley, Lara Swiontek
Zeichnungen: Lara Swiontek

avant-verlag
Hardcover │ 192 Seiten │ Farbe │ 26,00 €
ISBN: 978-3-96445-061-6

Genre: Literaturadaption

Für Leser, die das mögen: Die Unheimlichen (Carlsen), Providence (Panini), Geister der Toten (Splitter)


Die Story ist märchenhaft, spielt in der Welt der Superreichen und ist zeitlich erstaunlich schwer zu verorten, obwohl sie offenkundig im Hier und Jetzt spielt. Im Mittelpunkt steht der junge Guido Carega, der aus Vergnügungssucht das Familienerbe verprasst. Lara Swiontek nahm sich die gleichnamige Kurzgeschichte von Mary Shelley vor, verpflanzte sie in Form dieses Comics in die Neuzeit und beweist damit, dass dieser Stoff, der im 19. Jahrhundert entstanden ist, zeitlos ist und sogar in grauer Vorzeit oder in ferner Zukunft spielen könnte.


Sieht eigentlich ganz nett aus, unser Held Guido Carega


Guido Carega wird in ein wohlhabendes Elternhaus geboren und sollte damit eigentlich eine glänzende Zukunft haben, doch der alleinerziehende Vater setzt dem Heranwachsenden keine Grenzen, und so ist das Resultat deprimierend. Der Sohn ist ein Kotzbrocken und liebt es, seine Umgebung zu terrorisieren. Nur in der Gegenwart seiner Jugendfreundin Juliet, die er Juli nennt und heimlich liebt, benimmt er sich wie ein halbwegs normaler Junge. Leider hat das keinen Einfluss auf seine weitere Entwicklung. Als der Vater stirbt, ist er ein arroganter, unausstehlicher junger Mann, der nur eines im Sinn hat: Geld ausgeben und das nicht zu knapp. Zuerst in Genua, seinem Geburtsort, dann im fernen Paris. Doch selbst die längste Party geht einmal zu Ende und der »tolle« Guido ist pleite. Doch der denkt keinesfalls an Mäßigung, will einfach weitermachen und ersinnt einen miesen Plan. Er geht zurück nach Genua und will seine Jugendliebe Juli heiraten, die mindestens so reich ist wie er zuvor. Doch daraus wird nichts, denn Juli besteht auf einem Ehevertrag, der ihr Vermögen schützt. Da hilft weder Betteln noch Zetern: Guido kommt einfach nicht ran an die Moneten. Er wird sogar gewalttätig. Schließlich ist das Maß voll: Muskulöse Leibwächter kutschieren ihn vor die Stadt und geben eindeutig zu verstehen, dass er sich von Genua (und Juliet) fernhalten soll.


Als Kind ist er ganz putzig, aber der Schein trügt gewaltig. Denn Guido benimmt sich nur bei seiner Freundin Juli wie ein halbwegs normaler Junge.


Lara Swiontek packt das in schöne, Realismus ausstrahlende Illustrationen, die offenbar mit Kreide oder Kohle gestaltet wurden. Die verwendeten Farben reichen von verhalten warm bis kühl. Impulsiven oder glückseligen Momenten spendiert sie viel Altrosa. Reichlich Blau, viel Grau und Schwarz gibt es für die düsteren Momente. Interessant: Trotz der nicht zu leugnenden Farbenspiele, Gelb gibt es ja auch zu sehen, kann sich nach der Lektüre der nicht korrekte Eindruck verfestigen, das Buch bestünde durchweg aus schwermütigen, dunkelgrauen monochromen Abbildungen. Das ist aber gut und ein Beleg dafür, dass es Swiontek gelingt, Mary Shelleys Stimmungslage auch grafisch einzufangen.


Ab nach Paris! Der Schnösel ist von seinem Heimatort Genua schwer gelangweilt.


Damit ist die Geschichte aber noch lange nicht zu Ende. Guido ist nun mittellos, fühlt sich als Niemand und traut sich nicht mehr zu seinen Party-Freunden. Er wähnt sich am Ende. Doch kurz bevor er Selbstmord begehen kann, tritt ein missgebildeter, kleinwüchsiger Mann in sein Leben, der so deformiert ist, dass er kaum anzusehen ist. Der ködert ihn mit einem fantastischen Angebot. Drei Tage lang will er sich Guidos schönen Körper ausleihen – im Tausch für eine Schatzkiste, prall gefüllt mit Schmuck, Gold und Geld. Guido willigt ein; die Gier ist einfach zu groß.

Spätestens an dieser Stelle staunt der Leser nicht schlecht. Die temporeiche Betrachtung einer missglückten autoritäre Erziehung und der daraus erwachsenen Maßlosigkeit mündet nun in eine unheimliche Geschichte, die einen umso mehr in den Bann zieht. Damit ist auch auf erzählerischer Ebene eine Transformation vollzogen, auch wenn der Leser es zunächst nicht glauben will. Ist Guido jetzt wirklich ein Zwerg? Und: Ist das wirklich ein guter Deal?


»Ausschweifend« ist untertrieben: Guido gibt Tag und Nacht Vollgas.


Darüber hinaus gibt Shelley Antworten auf eine Frage, die immer aktuell ist. Wie wichtig ist Reichtum? Laut Shelley ist Wohlstand kein Garant für Zufriedenheit und nicht maßgeblich für die Entwicklung eines Menschen. Ihrer Meinung nach gibt es aber gute oder schlechte Erziehung. Außerdem verrät sie, wie sie über die Liebe denkt. Denn, oh Wunder, Guido ist trotz aller Kapriolen unsterblich in Juli verliebt. Und die ist eigentlich auch voll auf seiner Seite. Wenn da nur nicht der verfluchte Mammon wäre!


Der Schönling und der Zwerg: eine unheimliche Begegnung, die alles ändert?


Verwandlung bietet eine angenehm schaurige und nachdenklich stimmende Geschichte, die mit einem überraschenden Finale aufwartet. Gleichzeitig ist diese Comicadaption auch ein ganz großer Fingerzeig, dass Mary Shelley neben ihrem weltberühmten Frankenstein auch noch andere Geschichten geschrieben hat, die es zu lesen lohnt. Und davon nicht zu wenig.

[Walter Truck]

Abbildungen © 2022 avant-verlag / Lara Swiontek


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