Frisch Gelesen Folge 272: Lagos – Leben in Suburbia

»Die Leute arrangieren sich halt. Heiraten, bekommen Kinder. Eine lesbische Freundin hat einen schwulen Mann geheiratet und sie haben zwei wunderschöne Kinder. Sie sind beste Freunde. Und müssen ihre Eltern nicht blamieren.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Lagos – Leben in Suburbia

Story: Elnathan John
Zeichnungen: Àlàbá Ònájin

avant-verlag
Softcover | Farbe | 224 Seiten | 25,00 €
ISBN: 978-3-96445-060-9

Genre: Soap Opera / Social Studies / afrikanische Comics

Für alle, die das mögen: Aya, German Calendar No December



Lagos – Leben in Suburbia erzählt vom Leben der Familie Akpoborie. Der Vater, der sich als traditionelles Oberhaupt seiner Sippe sieht, ist ein Prediger und baut sich gerade eine Gemeinde auf. Seine Frau kümmert sich ebenso traditionell um den Haushalt, den allerdings vor allem das Dienstmädchen erledigt, sowie die drei Kinder: die etwas naive Keturah, die von den Männern verfolgt wird, die kritische Mary, die stets für den Fortschritt eintritt, und ihr Bruder Godstime, der seine Homosexualität verstecken muss, weil er im Hause eines Mann Gottes selbstverständlich nicht schwul sein darf. Zu den Nebenfiguren gehören Betrüger, die für den Reverend Wunder fälschen, Nachbarn und Freunde, die in Konflikten der einen oder anderen Seite der Familie beistehen, und eine Tante mit viel Lebenserfahrung, die gute Ratschläge verteilt – die einsame Sonne des Buches.

So weit, so Soap Opera. Und natürlich tun sich mit der Zeit immer mehr Abgründe auf: Der Vater vergewaltigt das Dienstmädchen und entlässt es, um Ärger zu vermeiden. Keturah findet einen Freund, wird aber gleich schwanger, sodass zügig eine Hochzeit arrangiert werden muss. Und Godstime geht nach Deutschland, nachdem sein Freund Selbstmord begangen hat, und macht dort eine Therapie. Das alles wird flott erzählt, viele Passagen sind nicht länger als zwei, drei Seiten, was ebenfalls an Soaps im Vorabendprogramm erinnert. Nix Neues also, bis auf eines: Das alles spielt in Nigeria.

Lagos ist mit 14 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Afrikas (nach Kinshasa mit 15 Millionen) und die größte Stadt Nigerias. Das Land hat rund 214 Millionen Einwohner, von denen fast die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze leben. Nur jeder Zweite hat Zugang zu sauberem Trinkwasser, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 53 Jahren (weltweit Platz 213 von 223). Nigeria hat zwar große Ölvorkommen und eine für die Region recht gut funktionierende Wirtschaft, doch die Korruption ist enorm und weit verbreitet, genau wie die Kriminalität (Entführungen, Betrug). Zudem gibt es diverse militante Gruppen, im Norden vor allem die islamistische Terrorbande Boko Haram, im Süden unter anderem Kämpfer für die Neugründung von Biafra.

Ein Buch über den Alltag einer Mittelschichtfamilie in Lagos ist vor diesem Hintergrund schon eine Aussage: Nigeria ist eben nicht nur eine endlose Krise, sondern auch ein Land, in dem ganz normale Menschen versuchen, ein ganz normales Leben zu führen. Der Autor Elnathan John, der vor der Graphic Novel zwei Romane veröffentlicht hat und für diverse afrikanische Literaturpreise nominiert war, malt aber keine heile Welt, im Gegenteil: Niemand hat es in diesem Buch einfach. Von Afrika-Klischees wie Wellblechhütten und UN-Hilfsprogrammen ist es aber weit entfernt.

Der Zeichner Àlàbá Ònájin, der auch bei dem Unesco-Projekt Women in African History mitgewirkt hat, setzt das kleine Mit- und Gegeneinander der Menschen detailliert und ordentlich um, besonders bei Mimik und Gestik kann er punkten. Die Stadt dagegen wirkt eher kahl, die Straßen sind meist leer und übersichtlich, was zu einer Megacity wie Lagos eigentlich nicht passt. Aber vielleicht ist auch das ein Statement: Überall, in den Häusern, Lokalen, der Kirche ist viel Platz, was ein Zeichen für Wohlstand sein könnte. Das ist nur leider schwer zu sagen, denn: Das Buch bietet keine Einordnung oder einen Rahmen für die Geschichte.

Das Fehlen jeglichen Überbaus ist die mit weitem Abstand größte Schwäche des Bandes: Es gibt kein Vorwort, kein Nachwort, kein Glossar. Die Künstler erzählen eine Geschichte, die in ihrer Heimat vermutlich auf vielen Ebenen unterschiedlich verstanden werden kann, doch für Menschen mit einem eher geringen Wissen über Afrika ist sie bloß eine exotische, aber letztlich bedeutungslose Blüte. Das ist besonders ärgerlich, weil 1. das Buch ein Projekt des Goethe Instituts Nigeria ist, es 2. von der Kulturstiftung des Bundes gefördert wurde, und 3. der avant-verlag in der Regel durchdachte Bücher veröffentlicht – wie konntet ihr alle zusammen eine Einführung vergessen?

Aber genug genörgelt. Dramaturgisch geht das Buch ab der Mitte überraschend gut ab, die Situation eskaliert und mündet in einigermaßen überraschenden Entwicklungen. Besonders interessant fand ich einige Sequenzen in Nigerianischem Pidgin (auf Englisch basierende Hilfssprache, mit der sich Menschen aus unterschiedlichen Regionen verständigen), die die (exzellente!) Übersetzerin Lillian Pithan im Original belassen hat. Die Sprache wird wohl vor allem in der Unterschicht gesprochen, weshalb sie im Haus der aufstiegsorientierten Familie Akpoborie nicht erlaubt ist. Aber sie hat einen schönen Klang und verleiht der verspannten Familie einen Hauch von Street Cred.

Am Ende sind die Probleme, die in diesem Buch in Lagos ausgefochten werden, dieselben Probleme wie in Deutschland vor 50 Jahren: Patriarchen, Aberglaube, sexuelle Tabus – alte Strukturen für neue Menschen. Es scheint, dass der Wohlstand überall für Fortschritt sorgt, aber dass sich zugleich überall die alten Männer, die nicht immer weiß sein müssen, schon gar nicht in Lagos, mit Händen und Füßen dagegen wehren. Was auch heißt: Wenn wir nicht mit ihnen leben können, müssen wir ohne sie leben. Da sind die Akpobories erfreulich konsequent.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2022 avant-verlag / Elnathan John, Àlàbá Ònájin


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