Frisch Gelesen Folge 282: Eine Geschichte

»So bösartig die Natur ist, so zärtlich schützt uns unsere eigene Blindheit.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Eine Geschichte

Story: Gipi
Zeichnungen: Gipi

avant-verlag
Hardcover | 128 Seiten | Farbe | 28,00 €
ISBN: 978-3-96445-070-8

Genre: Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Baru, Shaun Tan (Ein neues Land)



Wenn ich in Ankündigungen, Werbungen und Rezensionen von Kollegen lese, dass es sich bei einem Comic um eine der besten Graphic Novels des Jahres handelt, werde ich natürlich besonders sensibel. Sensibel heißt dann, dass ich die Geschichte gar nicht mehr unvoreingenommen lesen kann, immer bedacht darauf, wesentliche Aspekte nicht zu überlesen oder einen tieferen Sinn nicht verstehen zu können.

Entsprechend habe ich mit der Lektüre begonnen. Eine Geschichte ist in einem ersten Widerspruch zum Titel nicht nur eine Geschichte, sondern handelt von zwei unterschiedlichen Erzählungen, von zwei Männern, über mehrere Generationen voneinander getrennt und doch über ihre persönlichen Tragödien miteinander verbunden.

Silvano Landi: ein Schriftsteller in der Krise.


Einerseits geht es um das Leben von Silvano Landi, einem erfolgreichen Schriftsteller, der im Alter von 50 Jahren von seiner Familie verlassen wird, damit überhaupt nicht klarkommt und in einer psychiatrischen Anstalt landet. Die Überschrift für dieses Kapitel »Bituprozan« liefert entsprechende Hinweise auf den diagnostizierten Zustand und die Medikation, der mit antidepressiv wohl noch harmlos beschrieben ist. Statt einer entsprechenden Behandlung und dem Wunsch nachzukommen, spazieren zu gehen, wird der mehr oder weniger prominente Insasse mit immer höheren Dosen ruhiggestellt.

Das zweite Kapitel trägt die Überschrift »Maschinengewehr«. Ein Soldat im Ersten Weltkrieg, im Schützengraben, kurz davor, den halbwegs sicheren Zufluchtsort verlassen zu müssen, um zusammen mit einem Kameraden dem Feind entgegenzutreten – keine schöne, eine eher schon ausweglose Situation und insofern eine mögliche Parallele zum Aufenthalt von Landi in der Psychiatrie: Der eine will raus, der andere muss raus.


 Mauro Landi: ein Soldat im Krieg.


Dabei sind die Kommentare einer Baronesse zum Krieg aus aktueller Sicht geradezu hellseherisch und gleichermaßen zynisch: »Ich habe nichts gegen Krieg, im Gegenteil, nur kurz muss er sein, … der Krieg … wird langweilig wie alles eben. Die ersten Monate: aufregend, die Helden ziehen los. Die letzte Liebesnacht, aber dann … verschleppt sich alles furchtbar.«

Auch so kann man den sich langsam verlierenden Schrecken eines immer länger andauernden imperialistischen Angriffs auf ein unbeugsames Nachbarland verbildlichen.

So einleuchtend die Benennung der ersten beiden Kapitel auf den ersten Blick erscheint, so irritierend sind doch die Überschriften der folgenden: »Verleger«, »Nichts« und »V« (fünf).

Im dritten Kapitel »Verleger« werden die beiden unterschiedlichen Stränge dann nicht nur farblich miteinander verknüpft, es wird auch die Frage gestellt, ob es lohnenswert sei, eine solche Geschichte überhaupt zu erzählen. Vielleicht ist das auch gerade die ausgewiesene Rolle eines Verlegers, der Landi mehr als deutlich zu verstehen gibt, dass dies gar keine Geschichte sei und dass es mithin seine Aufgabe (die des Verlegers) sei, den Autor mit dieser Realität schonungslos zu konfrontieren.

Was verbindet denn die beiden Geschichten – der Schmerz, das Älterwerden, das Unaufhaltsame, die Einengung in der Psychiatrie und im Schützengraben? Dem Leser bleibt es überlassen, sich seine eigenen Gedanken dazu machen.


Historisch und farblich voneinander getrennt ...


Genügend Spielraum für eigene Interpretationen bleibt in jedem Fall.

Die historisch getrennten und doch miteinander verwobenen Handlungen  – der Soldat heißt Mauro Landi und ist der Urgroßvater des Schriftstellers – sind auch farblich voneinander abgesetzt, einerseits scheinbar flüchtige und unfertige Tuschezeichnungen (Landi in der Psychiatrie) für die Gegenwart, üppige und schwermütige Aquarelle für die Historie (der Urahn im kriegerischen Umfeld).


... und doch miteinander verwoben: Gipis Erzählebenen.


Und genau damit geht auch das zwiespältige Gefühl einher, dass dieser Comic bei mir hinterlässt.

Einmaliges Lesen reicht dafür auf jeden Fall nicht aus. Beim ersten Mal bleibt ein unterschwelliger Eindruck, etwas nicht so ganz verstanden zu haben. Und dieser Eindruck verliert sich auch bei wiederholtem Lesen nur langsam - obwohl man das Gefühl hat, immer tiefer in die Erzählungen einzutauchen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Comics habe ich Eine Geschichte schon mehrfach wieder hervorgeholt und finde immer wieder neue Aspekte und Details. Das ist auch einer der Gründe für das eingangs gewählte Zitat über die eigene Blindheit, die man ja nicht nur auf die Protagonisten von Gipis Epos beziehen kann.


Wiederholt: filmreife Szenen.


Gipi wurde für eine Vielzahl seiner Comics international ausgezeichnet und hat mit dem Filmemachen eine zusätzliche Leidenschaft. Mit seinen erzählerischen Sprüngen von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück hat er in Eine Geschichte die beiden Genres durchaus miteinander verbunden.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass Eine Geschichte kein kurzweiliges Vergnügen ist, aber eine Faszination ausübt, die wirklich fesselt.

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2022 avant-verlag / Gipi


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