Frisch Gelesen Folge 169: Bald sind wir wieder zu Hause

 »Eins von tausend Kindern überlebte das Ghetto von Lodz und die Zeit danach. Ich war eines der Kinder, die überlebten. Oft denke ich daran, wie viel Glück ich hatte.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Bald sind wir wieder zu Hause

Story: Jessica Bab Bonde
Zeichnungen: Peter Bergting

Cross Cult
Hardcover │ 104 Seiten │ Farbe │ 20,00 €
ISBN: 978-3-966581-78-3

Genre: Geschichte, Biografie

Für alle, die das mögen: Maus


Für die einen beginnt die Leidensgeschichte schleichend. Sie dürfen bestimmte Straßen plötzlich nicht mehr betreten und werden in der Schule nicht nur von Klassenkameraden gepeinigt. Susanna zum Beispiel lebt zu Beginn des zweiten Weltkriegs in Ungarn und hat eine Lehrerin, die Juden hasst. Diese verkündet jede Unterrichtsstunde, wo sich die deutschen Truppen gerade befinden und fügt jedes Mal hinzu: »Sie werden bald hier sein, und wir werden bald alle Juden loswerden.« Weitere Ausgrenzungen sind an der Tagesordnung und der Alltag wird immer härter.


Für viele begann der Schrecken so ...


Für die anderen kommt der Terror wie aus heiterem Himmel. Sie werden abrupt aus dem Leben gezerrt, zusammen mit ihren Eltern und Verwandten enteignet und gezwungen, in beengte Wohnviertel zu ziehen. Ist damit der Höhepunkt des Schreckens erreicht? Nein. »Im Judenviertel lebten viele Waisen«, blickt Tobias zurück. »Mit der Zeit verschwanden sie alle, nach und nach.« Es folgen Deportationen in Konzentrationslager – für die meisten ein Weg in den Tod. Selma etwa steht vor einem gut gelaunten Lagerhauptmann, der sie und die anderen Neuankömmlinge begutachtet. Und mit einem Wink nach rechts oder links entscheidet, wer leben darf und wer sterben muss. »Er wählte meine Mutter und tötete sie an jenem Tag zusammen mit tausend anderen Frauen und Kindern«, erinnert sie sich. Doch dieses Überleben bedeutet nichts, denn eigentlich sollen sie alle sterben. Dem sicheren Tod entgeht sie nur, weil sie zur Zwangsarbeit in einer Krupp-Waffenfabrik eingeteilt wird. Schockierend.


... und endete hier ...


Der Holocaust: aus der Sicht von sechs Überlebenden, die im Kindesalter dem organisierten Völkermord nur durch Glück und nach vielen Torturen entgehen und in Schweden eine neue Heimat finden. Die Schwedin Jessica Bab Bonde schrieb deren Erinnerungen auf, Landsmann Peter Bergting kleidete diese in beklemmende Zeichnungen. Bergtings Linienführung ist klar, mit einem leichten Ausschlag ins Abstrakte und bei Gesichtern vergleichsweise reduziert. Bei Kleidung und Hintergründen ist er zwar detailfreudiger, aber auch hier verfährt er nach dem Motto: Weniger ist mehr. Interessant ist der vorhandene künstlerische Bezug zu Mike Mignola (unter anderem Hellboy), der aber erst nach einem Blick in die Danksagungen auffällt. Die deprimierenden Geschichten untermalt er mit herbstlichen Farben und legt mit düsteren Schattierungen und reichlich Schwarz nach, wenn die Schilderungen an Intensität zunehmen.


... oft direkt nach der Ankunft im Konzentrationslager, durch Selektion.


Jessica Bab Bondes Tonfall ist nüchtern, gefasst, wirkt ein wenig einlullend und gaukelt so eine gewisse Unbekümmertheit der Protagonisten vor. So kann es einen Moment dauern, die brutale Tragweite dieses Stoffs zu erfassen. Ein gelungener Kniff, um den Leser ins Geschehen zu saugen und seine Aufmerksamkeit einzufordern. Aber vielleicht ist diese Interpretation auch ein Schutz, um das Niedergeschriebene nicht zu nah an sich heranzulassen. Denn wem gefällt es schon, Emerich zur Unkenntlichkeit abgemagert in einem Panel zu sehen? »Ich war ein Skelett mit lebendigen Augen. Ich war einundzwanzig, 1,75 Meter groß und wog 34 Kilo.« Trotzdem schwingen bei Bonde weder Hass noch Aggressionen mit. So wirkt das Erzählte noch eindringlicher.


Die Geschichten und die Bilder sind eindrücklich und beklemmend ...


Rechtsextremismus und Antisemitismus treten in Deutschland wieder gehäuft auf. Die Hessische Polizeiaffäre um rechte »NSU 2.0.«-Drohmails und der Anschlag auf eine Synagoge in Halle im vergangenen Jahr seien an dieser Stelle als Beispiele genannt. So ist es gut, dass sich Bonde und Bergting mit ihrer mitreißenden Arbeit gegen das Vergessen des schrecklichsten Kapitels deutscher Geschichte stemmen. Gleichzeitig kann diese Lektüre auch dazu dienen, sich weiterführende Fragen zu stellen. Wäre es nicht schön, Flüchtlinge tendenziell aufnehmen zu wollen, anstelle reflexartig Abschottung und Ausweisung zu fordern? Könnten wir nicht anstreben, Konflikte ohne Gewalt zu lösen? Sollten wir nicht ohne Anfeindungen, Fragen über Migrationshintergründe oder Stammbaumforschungen auskommen?


... und nicht nur für Kinder, sondern auch für ältere Semester geeignet.


Kaum zu glauben, dass dieser tolle Comic an junge Leser gerichtet ist. Die einzigen Hinweise dafür sind ein entsprechender Zielgruppenhinweis des Verlages und der Anhang mit Glossar, Zeittafel und Karte aller Handlungsorte. Das hier ist aber kein Kinderkram, sondern ein beklemmendes Drama mit geschichtlichem Hintergrund. Ältere Semester können und dürfen also auch gerne zugreifen!

[Walter Truck]

Abbildungen © 2020 Cross Cult


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